“Projekt Daedalus” hält das hohe Niveau der beiden vorangegangenen Episoden und setzt in Sachen Dramatik sogar noch eins oben drauf. Der neunte Akt der zweiten Staffel überzeugt mit spannenden Enthüllungen, berührenden Charaktermomenten und brettstarken Dialogen. “Star Trek: Discovery” findet immer mehr zu einem eigenen Stil, bleibt seinen “Star Trek”-Wurzeln aber trotzdem treu. Unsere ausführliche Zweitrezension geht in die Details.
Vorsicht Spoiler!
Die Handlung
Admiral Cornwell (Jayne Brook) trifft in geheimer Mission auf der Discovery ein. Sie will sich selbst davon überzeugen, ob Spock tatsächlich unschuldig ist. Nach einem Gespräch mit Spock und dem Einsatz eines Lügendetektors scheint Admiral Cornwell Spocks Version zu glauben. Es stellt sich allerdings die Frage, warum die Aufzeichnungen von Sternenbasis 5 etwas anderes zeigen.
Pike warnt Cornwell eindringlich davor, Sektion 31 zu vertrauen. Cornwell wiederum erwähnt, dass Admiral Patar vom Kommando der Sternenflotten eine Logik-Extremistin sei und radikale Ansichten vertrete. Auch Control, das KI-System von Sektion 31 zur Bedrohungsbewertung, akzeptiere seit einer gewissen Zeit nicht mehr ihre Kommandocodes, so Cornwell. Ensign Tilly lokalisiert derweil den Empfangsort der heimlich vom Schiff gesendeten Signale. Daraufhin macht sich die Discovery auf den Weg zum Hauptquartier von Sektion 31, eine vor rund 100 Jahren verlassene und stark befestigte Raumstation, die einst als Strafkolonie fungierte, um dieser Sache auf den Grund zu gehen.
Derweil weiß Spock immer noch nicht, weshalb der Rote Engel ausgerechnet ihn ausgewählt hat, um vor der drohenden interstellaren Katastrophe zu warnen. Burnham möchte ihren Bruder dabei unterstützen, zu klarem Verstand zurückzufinden. Eine Partie 3D-Schach soll Spock dabei helfen. Burnhams Bemühungen bleiben jedoch erfolglos. Vielmehr endet die Schachpartie in einem heftigen Streit und es wird deutlich, dass sich die beiden Geschwister über die Jahre entfremdet haben.
Bei der Infiltration der Sektion 31-Basis stellt sich heraus, dass Teile der Admiralität von Control getötet und durch Hologramme ersetzt worden sind. Control hat begonnen, ein Eigenleben zu entwickeln. Besonders die Datenbank der Sphäre hat es Control angetan. Es wird immer deutlicher: Control ist zu einer ernsthaften Bedrohung geworden.
Im Laufe der Außenmission wendet sich die von Control infiltrierte Airiam überraschend gegen ihre Schiffskameradinnen und greift diese an. In einem lichten Moment fordert Airiam Burnham auf, die Luftschleuse zu öffnen und sie in den Weltraum zu blasen. Burnham zögert, doch Commander Nhan schreitet rettend ein. Airiam ist verloren. Doch sie hat Burnham zwei wichtige Hinweise hinterlassen. Burnham selbst sei ein wichtiger Mosaikstein, ebenso wie eine Datei namens “Projekt Daedalus”(…)
Control außer Kontrolle
Dank “Projekt Daedalus” weiß der Zuschauer nun, dass es die Discovery wohl mit einer außer Kontrolle geratenen KI zu tun hat, die in ihrem Streben nach Selbstständigkeit und Macht alles empfindungsfähige (oder auch biologische) Leben in der Galaxis vernichten will. Diese Schlussfolgerung liegt zumindest nahe.
Und der mysteriöse Rote Engel? Der steht in diesem Konflikt dann wohl doch eher auf der Seite der Guten, schließlich ist er es, der durch die Zeit gereist ist, um Spock auf dieses Problem aufmerksam zu machen. Zudem interveniert der Engel auch sonst in helfender Weise. Auch wenn die Zusammenhänge (rote Signale, USS Hiawatha, New Eden, Kaminar, Spock) weiterhin noch im Dunkeln liegen, würde ich – Stand jetzt – nicht davon ausgehen, dass es der Rote Engel ist, der eine Bedrohung darstellt. Er kommt wohl aus der Zukunft, aber auch Control scheint Verbindungen in die Zukunft zu haben, wenn man die Geschehnisse in “Licht und Schatten” bedenkt. Also doch ein neuer temporaler Krieg?
Des Weiteren deutet Airiam an, dass Burnham der Schlüssel zu des Rätsels Lösung ist. Die populäre Fan-Theorie, dass der Rote Engel eine Zukunftsversion von Burnham sein könnte, bekommt hier definitiv neue Nahrung, ebenso wie die Annahme, dass Zora aus der Short Treks-Episode “Calypso” von Bedeutung sein könnte.
Klassisches SciFi-Thema
Grundsätzlich erinnert die Thematik einer zu Selbstbewusstsein findenden und neurotisch agierenden KI doch sehr stark an Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker “2001: Odyssee im Weltraum” (“2001: A Space Odyssey”, 1968). Ironischerweise heißt das Raumschiff, auf dem sich der Supercomputer HAL 9000 befindet, auch Discovery. Ein solcher Story-Arc wäre demnach ganz sicher keine Innovation im Science-Fiction-Genre, gleichwohl aber extrem am Puls der Zeit. Die Themen “KI” bzw. “Kybernetik” sowie die damit verbundenen sozialen, kulturellen oder auch ethischen Implikationen sind mittlerweile auch in den Fokus der deutschen Leitmedien gerückt, wie beispielsweise eine aktuelle Serie der Süddeutschen Zeitung belegt. Demnach stünde ein solcher Story-Arc absolut in der Tradition des Franchise, kontroverse zeitgenössische Themen aufzugreifen, diese zu problematisieren und gegebenenfalls sogar dazu Stellung zu beziehen (dazu später mehr).
Aus handlungstechnischer Sicht hat “Projekt Daedalus” jedenfalls eine nachvollziehbare Erklärung für das seltsame Verhalten der Sternenflotte geliefert, die ich in meiner letzten Rezension noch ungläubig als “Sauhaufen” bezeichnet hatte. Voll in die Falle getappt, muss beziehungsweise darf ich an dieser Stelle feststellen. Toll, genau so muss es auch sein! Bitte mehr davon, ich will von den Autoren überrascht und hinters Licht geführt werden!
Spock macht Burnham wieder interessant
Absolut gelungen sind in “Projekt Daedalus” ganz sicher die Dialoge, wobei natürlich das Duo Burnham und Spock hervorsticht. Insbesondere die Schach-Szene in Burnhams Quartier ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie man Wortgefechte mit scharfer Zunge und scharfem Verstand schreibt und diese dann schauspielerisch umsetzt. Wir erleben hier ohne Zweifel einen Psychokrieg zwischen Burnham und Spock, der sich auf ganz, ganz hohem Niveau bewegt. Michelle Paradise (Drehbuch) sowie die beiden Schauspieler Sonequa Martin-Green (Burnham) und Ethan Peck (Spock) haben hier wirklich ganz hervorragende Arbeit geleistet. Einfach nur toll!
Ich hatte schon seit dem Serienbeginn bekanntlich so meine Probleme mit der Figur Michael Burnham und war mir nach dem doch eher enttäuschenden Finale der ersten Staffel auch ziemlich sicher, dass diese Figur nach Auflösung des Meuterei-Handlungsbogens eigentlich schon durch sei. Nach “Projekt Daedalus” muss ich allerdings zu Kreuze kriechen und das Büßerhemd überstreifen: Die Figur Burnham ist definitiv noch nicht durch. Nein, sie fängt gerade erst an, interessant zu werden.
Denn Ethan Pecks Spock ist genau das, was der Charakter Burnham gebraucht hat. Er führt ihr absolut schonungslos vor Augen, welches ihre Schwächen sind: Sie neigt zur unbewussten Überheblichkeit und glaubt wohl auch, für jedes Problem in der Galaxie eine Lösung haben zu müssen. Da Burnham diesem fatalen Anspruch an sich selbst aber nicht gerecht werden kann, badet sie ständig in Schuldgefühlen und Selbstmitleid (Krieg mit den Klingonen, Tod ihrer Eltern, Spocks Zustand). Spocks Diagnose kann man als Zuschauer eigentlich nur bestätigen, sofern man die bisherigen 23 Discovery-Episoden aufmerksam verfolgt hat. Nur gibt es niemanden, der Burnham das bisher so direkt ins Gesicht gesagt hätte, wie Spock es hier tut.
Ähnlich wie Spock sucht auch Burnham ihre Identität. Zu Beginn der Serie hat sie stets versucht, einen auf Vulkanierin zu machen. Man denke nur an ihr Auftreten, als sie das erste Mal auf die Shenzhou kommt („Leuchtfeuer“ 1×01). Auch in der ersten Staffel verhält sich Burnham mehr wie eine Vulkanierin und weniger wie ein Mensch. Das ändert sich im Verlauf der ersten Staffel, vornehmlich dank Tilly und Tyler. Nur habe ich den Eindruck, dass dieser Wandel Burnham total aus ihrem Gleichgewicht gebracht hat.
Jedenfalls habe ich mich nach “Projekt Daedalus” ernsthaft gefragt, wie es sein kann, dass eine Frau wie Burnham kurz davor war, ein eigenes Kommando zu erhalten. Wir erinnern uns: In “Leuchtfeuer” attestiert Captain Georgiou ihrem Ersten Offizier die Reife für ein eigenes Kommando. Und tatsächlich erleben wir in dieser Episode eine selbstsicher wirkende und entscheidungsstarke Commander Burnham. Doch davon ist aktuell nichts mehr zu sehen. Burnham markiert zwar gerne die Allwissende, ist in meinen Augen aber mittlerweile unfähig, wichtige Entscheidungen basierend auf rationalen Erwägungen zu treffen. Sie ist – im totalen Gegensatz zu ihrer Vulkanier-Attitüde in der Pilotfolge – einfach viel zu emotional. Das geht sogar so weit, dass sie (mal wieder) den Befehl ihres kommandierenden Offiziers missachtet und absolut emotionsgesteuert, irrational, stur und verantwortungslos Airiam retten will. Somit gefährdet sie nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das der gesamten Besatzung. Entschuldigung, aber diese Frau kann man nicht guten Gewissens mit einem Kommando betrauen. Ich würde sie nicht einmal als Zweiten Offizier in Erwägung ziehen, wenn ich Pike wäre. Es hat schon Gründe, warum wir Burnham bisher nicht ein einziges Mal vertretungsweise im Kommandosessel der Discovery gesehen haben.
Für die Story rund um Burnham kann das alles wiederum nur positiv sein, denn es eröffnen sich dadurch völlig neue Perspektiven. Wird Burnham wieder zu Autorität, Entscheidungs- und Führungsstärke zurückfinden? Oder zerbricht sie an ihrem eigenen Anspruchsdenken? Spock hält ihr jedenfalls erbarmungslos den Spiegel vor und vielleicht führt das am Ende auch zu einem endgültigen Bruch zwischen den beiden Sarek-Kindern.
Der Zorn des Spock
Kommen wir zu Spock. Dieser ist zwar nachweislich kein Mörder (was auch nicht anders zu erwarten war), scheint aber dennoch voller Frust und Wut zu sein. Einerseits, weil er noch keine Balance zwischen seiner vulkanischen (Logik) und seiner menschlichen Seite (Emotion) gefunden hat. Andererseits hört man aus der Konversation zwischen ihm und Burnham ganz deutlich heraus, dass Spock voller Neid auf Michaels enge Beziehung zu Sarek blickt. Und Michael wiederum kennt diesen Schwachpunkt von Spock, sie spielt sogar in sehr provokanter Weise damit. Spock wiederum wirkt hier extrem zynisch. Einen gewissen Zynismus hatte er auch schon in TOS und den Kinofilmen, vor allem gegenüber Dr. McCoy (“Also wirklich, Doktor McCoy, Sie müssen lernen Ihre Emotionen zu beherrschen, sonst wird das noch Ihr Untergang sein.”, Spock in “Star Trek II: Der Zorn des Khan”). Hier ist dieser Zynismus allerdings weitaus emotionaler, kalkulierter und verletzender. Spock weiß, welche Knöpfe er bei seiner Schwester drücken muss. Und so entwickelt sich im Verlauf des Schachspiels eine Art Psychokrieg zwischen den Geschwistern, der wirklich sehr viel Spaß macht. Man sieht, dass Spocks Weg vom wütenden jungen Mann zum ausgeglichenen Offizier in TOS noch ein weiter ist.
Burnham und Spock haben eigentlich dieselben Probleme. Sie fühlen sich zwischen zwei Welten (oder Denk- und Lebensweisen) hin und hergerissen und haben zudem stets das Gefühl, den Ansprüchen, die an sie gestellt werden, nicht gerecht zu werden. Spock flüchtet sich am Ende in die absolute vulkanische Emotionslosigkeit. Burnham scheint hier den umgekehrten Weg zu gehen. Eine wirklich interessante Figurenkonstellation.
Und noch schnell einige Worte des Lobes: Ethan Peck spielt Spock wirklich überragend. Ich habe ganz viel von Leonard Nimoy in ihm wiedererkannt. Sicherlich muss man sich an Spocks neues Aussehen erst noch gewöhnen, aber dialogtechnisch und schauspielerisch ist das hier ganz eindeutig Spock. Tolles Casting! Tolles Writing!
“Now you will get off my ass!”
Etwas überzogen fand ich Captain Pikes Reaktion auf das Minenfeld, welches das Hauptquartier von Sektion 31 vor feindlichen Angriffen schützen soll. Ist ein nicht getarntes Minenfeld zur Selbstverteidigung einer militärischen Einrichtung vor einer getarnten Angriffsflotte aus moralischer Sicht wirklich so dermaßen verwerflich?
Natürlich gibt es auch im Krieg Regeln, aber die Sternenflotte kommt mir diesbezüglich manchmal doch etwas zu weinerlich vor. Vielleicht werden demnächst auch noch die Phaser und Photonentorpedos geächtet und man ergibt sich dem Feind gleich ohne Gegenwehr? Dass dieser von Pike vorgebrachte Einwand wenig überzeugend ist, beweist schon allein die Tatsache, dass die Föderation den Einsatz von Minen im 24. Jahrhundert nicht mehr gänzlich ächten wird.
Denn die Minen-Thematik ist in “Star Trek” nicht neu. Wir erinnern uns an das getarnte (!!!) Minenfeld, das Captain Sisko unter Autorisation des Sternenflotten-Kommandos am Eingang des Wurmlochs im Alpha-Quadranten hat errichten lassen (DS9 5×26 “Zu den Waffen”). Da gab es auch keine großen moralischen Bedenken, schließlich musste man hier in purer Notwehr eine aggressive Aufrüstung der Cardassianer durch das Dominion kontern. Normales “Balancing” eben, würde der Realpolitiker hier wohl konstatieren. Völlig anders war natürlich die Situation in “Die Belagerung von AR-558” (DS9 7×08), wo Captain Sisko die Umprogrammierung der hinterhältigen Subraumsprengminen des Dominion (Houdinis) anordnet, um seine Einheit vor der sicheren Vernichtung durch eine Übermacht an Jem’Hadar-Soldaten zu bewahren. Ethisch ist dieses Vorgehen natürlich sehr fragwürdig und Ezri Dax bringt diese Doppelmoral dann ja auch sehr gut auf den Punkt. Aber wie Cicero schon wusste: “Inter arma enim silent leges”. In diesem Fall hieß es eben: sie oder wir!
Pike will in “Projekt Daedalus” hingegen päpstlicher sein als der Papst. Und ich muss gestehen, dass mir seine Moralapostel-Attitüde hier schon ein bisschen unsympathisch und auch irgendwie unprofessionell erscheint. Zwischen einem Minenfeld, das als Pufferzone zwecks Sicherung einer taktisch extrem wichtige Geheimdienstbasis fungiert, und beispielsweise der hinterhältigen Verminung zivilen Terrains besteht schon ein gewaltiger Unterschied. Das Sektion 31-Minenfeld ist auch nicht ansatzweise mit dem geplanten Genozid an den Klingonen in “Nimm meine Hand” (1×15) zu vergleichen.
An dieser Stelle hat die Autorin wohl versucht, den Kontrast zwischen der unmoralischen Sektion 31 und der moralischen Sternenflotte (Pike) zu verdeutlichen. Nur das Minenfeld passt hier als Aufhänger einfach nicht so ganz, wie ich finde. Daher kann ich Admiral Cornwell diesbezüglich nur beipflichten: „Pike, hör’ auf zu nerven!“
Derweil darf man festhalten, dass Admiral Cornwell (Jayne Brook) wieder etwas sympathischer daherkommt und auch ein gutes Führungsduo mit Captain Pike (Anson Mount) bildet.
Airiam, I presume
“Projekt Daedalus” erforscht endlich die Hintergründe zu Lt. Commander Airiam (Hannah Cheesman). Airiam ist ein kybernetisch augmentierter Mensch, wobei diese Augmentation wohl eher das Ergebnis einer medizinischen Notwendigkeit ist und nicht auf eigenen Wunsch erfolgt sein dürfte (Transhumanismus). Zumindest lässt Airiams Verweis auf einen Shuttle-Unfall das vermuten. Letztendlich bleibt der Zuschauer hinsichtlich der genauen Hintergründe leider im Dunkeln, was ich doch sehr schade finde, denn die gesamte Thematik ist sehr interessant und wäre einer eigenen Episode (oder Short Treks-Episode) absolut würdig gewesen (Und ein Airiam-Short Trek wäre auch viel spannender gewesen als die langweilige Tilly-Geschichte “Runaway”). Airiams Verletzungen müssen jedenfalls massiv gewesen sein. Wir erfahren nämlich, dass sie mittlerweile zumindest körperlich mehr Maschine als Mensch zu sein scheint. Schließlich muss sie ihren (scheinbar begrenzten) Gedächtnisspeicher regelmäßig bereinigen, so wie wir heutzutage unser Smartphone von Zeit zu Zeit von unnötigen Dateien (Memes, Nachrichten, Bilder usw.) befreien müssen. Zudem scheinen auch ihre Sinnesorgane und Teile ihres Gehirns durch kybernetische Geräte ersetzt worden zu sein.
Es stellt sich schon die Frage, wie eine solche Umwandlung einen Menschen beeinflusst. Die Lebensführung, die Selbstwahrnehmung und natürlich auch das Lebensgefühl. Dementsprechend hätte ich mir hier doch mehr Filmmaterial in Form von detaillierten Rückblenden gewünscht. Etwa so: Airiam wacht im Krankenhaus auf und man sagt ihr, dass sie durch den Shuttle-Unfall fast vollständig verbrannt ist, sodass nur eine massive Kybernetik-Therapie ihr Leben retten kann. Wie geht man mit einer solchen Nachricht um? Wie findet man einen Einstieg in ein Leben als nunmehr halb-kybernetische Lebensform? Wird man von der Gesellschaft akzeptiert? Wird man wie eine Maschine behandelt? Wie führt man Beziehungen? Wie sieht der Alltag aus? Wow, das ist wirklich eine extrem spannende Thematik, die man hier leider völlig ungenutzt gelassen hat. Sehr, sehr schade!
Zudem habe ich mich gefragt, warum man Captain Pike zehn Jahre später nicht auch mit kybernetischen Implantaten wieder “lebensfähig” machen kann. Ich würde nämlich annehmen, dass Airiams körperlicher Zustand nach dem Unfall ähnlich desolat gewesen sein muss wie der von Pike in “Talos IV – Tabu” (TOS 1×15/16).
Leider hat man es in eineinhalb Staffeln “Discovery” auch versäumt, das freundschaftliche Quartett aus Airiam, Detmer, Owosekun und Tilly genauer zu beleuchten. Und dass sich Airiam und Burnham gut verstehen, war bisher auch nicht wirklich ersichtlich gewesen. Sollte man den Handlungsbogen um Airiam längerfristig geplant haben, dann muss man die Autoren an dieser Stelle leider etwas tadeln. Auch wenn “Projekt Daedalus” im Wesentlichen ausreicht, um als Zuschauer Sympathie mit Airiam zu entwickeln, hat man im Vorfeld doch das große Potenzial dieser Figur nicht ansatzweise ausgeschöpft. Das wird man wohl auch nicht mehr nachholen können.
Zum Ende hin besitzt der Airiam-Arc natürlich enorme Spannung und Dramatik, keine Frage. Aber mit einer etwas liebevolleren Vorbereitungszeit hätte man hier ganz sicher noch mehr rausholen können.
Der Blick in den Spiegel – gesellschaftskritische Aspekte
“Projekt Daedalus” stellt ganz eindeutig das Thema “Künstliche Intelligenz (KI)” oder auch “Kybernetik” in den Mittelpunkt der Handlung. Und in guter, alter Star Trek-Tradition wird dieses Thema kritisch, aber durchaus ausgewogen reflektiert.
Kybernetik als medizinethisches Thema
Auf der einen Seite haben wir den positiven Aspekt von Kybernetik. Diese kann dabei helfen, medizinische Therapieverfahren zu verbessern und letztendlich Menschenleben zu retten. Airiam ist das Produkt einer Medizin, die sich keine (philosophischen) Grenzen setzt und einzig das Überleben des Menschen zur Priorität erhebt.
Das ist insofern interessant, weil dieses Statement, wenn man es denn so nennen will, in einem gewissen Widerspruch zur Deep Space Nine-Episode “Der Funke des Lebens” (3×13 “Life Support”) aus dem Jahr 1995 steht. In dieser Episode wird Vedek Bareil (Philip Anglim) so schwer verletzt, dass Dr. Bashir dessen Leben nur den Einsatz von künstlichen Implantaten retten kann. Neben lebenswichtigen Organen versagen dann allerdings nach und nach auch Teile von Bareils Gehirn. Als am Ende auch noch der letzte Teil von Bareils Gehirn durch positronische Implantate ersetzt werden muss, um Bareil zu retten, lehnt Bashir dies jedoch aus ethischen Gründen ab. Seine Argumentation lautet, dass sich der Funke des Lebens nicht durch eine positronische Matrix ersetzen ließe. Und dass der neue Bareil dann keine Persönlichkeit mehr hätte: “Er sieht aus wie Bareil. Er spricht wie Bareil. Aber er wird nicht mehr Bareil sein.”, so Bashir.
Airiam ist nun das gegenteilige Statement. Sie hat äußerlich wirklich gar nichts mehr mit der menschlichen Frau, die sie einst war, gemeinsam. Ihre Augen, ihre Stimme, ihr Gesicht – sie ist zum Großteil eine Maschine. Gleichwohl hat sie wohl noch Gefühle und ihre Persönlichkeit scheint auch erhalten geblieben zu sein. Dennoch ist ihr Gehirn zum Teil wohl auch kybernetisch, sonst müsste sie ihren Gedächtnisspeicher nicht partiell löschen und die “Abschaltsequenz” (Tod) am Ende der Episode legt diese Vermutung ebenfalls nahe.
Aber was ist nun der Funke des Lebens? Hätte Airiam ihren Shuttle-Unfall überlebt, wenn ihr Arzt damals Dr. Bashir gewesen wäre?
Leider hat man diese spannende medizinethische Fragestellung in “Projekt Daedalus” oder in einer separaten Folge der “Short Treks” nicht näher aufgegriffen. “Der Funke des Lebens” hatte hier eindeutig mehr Substanz. Ich hätte eine solche Episode wirklich sehr spannend gefunden, zumal das Thema auch sehr aktuell ist.
Künstliche Intelligenz als latente Gefahr
Künstliche Intelligenz kann aber auch eine Gefahr sein, nämlich wenn sie dazu führt, dass Menschen nicht mehr selbstständig denken. In einem Gespräch zwischen Cornwell, Pike und Saru klingt an, dass Control fast alle wichtigen strategischen Entscheidungen der Sternenflotte getroffen hat. Cornwell merkt richtigerweise an, dass eine Entscheidungsfindung aber eben nicht nur auf Daten und Fakten basieren sollte, sondern eben auch die menschliche Intuition nicht unberücksichtigt bleiben darf.
“Projekt Daedalus” greift hier eine Argumentation auf, die in “Star Trek” immer eine zentrale Rolle gespielt hat. Die Technik soll dem Menschen dienen, ihm das Leben erleichtern und angenehmer machen. Der technische Fortschritt darf aber keinesfalls dazu führen, dass wir aufhören, selbstständig zu denken und stattdessen anfangen, uns unsere Entscheidungen von KI-Algorithmen diktieren zu lassen.
Vielleicht von Data und dem Holodoc mal abgesehen wurde Technik, die nach Autonomie und Macht strebt oder das selbstständige menschliche Denken ersetzt, in “Star Trek” meist negativ bewertet. Beispiele hierfür sind u.a. Episoden wie “Krieg der Computer” (TOS 1×24), “Ich heiße Nomad” (TOS 2×08), “Computer M5” (TOS 2×24), “Die Sorge der Aldeaner” (TNG 1×17), “Die Waffenhändler” (TNG 1×21), “Prototyp” (VOY 2×13), der Kinofilm “Star Trek: Der Film” (V‘Ger) oder auch das Volk der Borg.
Diese Message steckt auch in dem Handlungsbogen um Control. Denn aktuell laufen wir vielleicht wirklich Gefahr, uns zu sehr von Algorithmen oder Uploadfiltern abhängig zu machen. Daher hat “Star Trek” hier mal wieder absolut den Zeitgeist eingefangen.
Ein Leben ohne schlechte Erinnerungen?
Wir Menschen sind im Wesentlichen das Produkt unseres Lebens, unserer positiven und negativen Erfahrungen. Aber wie wäre ein Leben ohne negative Erinnerungen? Wie wäre es, wenn wir wöchentlich entscheiden müssten, welche Erinnerungen es wert sind, im Gedächtnis zu bleiben und welche nicht. Was macht das mit uns, wenn wir uns nur noch über selektive Erfahrungen definieren? Wäre das Leben einfacher und lebenswerter ohne schmerzliche Erinnerungen und herbe Enttäuschungen? Oder sind es gerade die negativen Erfahrungen, die unseren Charakter bilden, die unsere Persönlichkeit stärken?
Ich finde diese Thematik aus anthropologischer Sicht äußerst spannend, aber leider wurde auch hier wieder großes erzählerisches Potenzial verschenkt. Airiam hätte der Serie noch sehr viel geben können, hätte man sie entweder schon zu einem früheren Zeitpunkt näher beleuchtet oder sie jetzt noch nicht sterben lassen.
Einige Beobachtungen
- Commander Nhan wirkt für eine Sicherheitschefin ungewöhnlich zögerlich. Warum hat sie Pike ihre Verdachtsmomente in Bezug auf Airiam nicht einfach mitgeteilt? Das ist doch ihr Job.
- Pike will schon wieder den Sporen-Antrieb benutzen, wozu es (zum Glück) nicht kommt.
- Burnham weint wieder – wie in fast jeder Folge. Muss man sie nicht langsam “Commander Cryham” nennen?
- Airiams Tod hat mich ein bisschen an den Tod des Terminators T-800 in “Terminator 2 – Tag der Abrechnung” erinnert. Zufall oder eine bewusste Hommage?
- Airiam opfert sich für ihre Crew. Damit reiht sie sich ein in eine Reihe von prominenten Star Trek-Märtyrern, die da wären Spock (“Star Trek II: Der Zorn des Khan”), Data (“Star Trek: Nemesis”) und Trip Tucker (ENT 4×22 “Dies sind die Abenteuer”).
- In dieser Zeitperiode scheint es eine Standardprozedur zu sein, den Warp-Antrieb erst im allerletzten Moment zu deaktivieren, wenn man einen Planeten anfliegt. Im 24. Jahrhundert wird hingegen davon abgeraten, den Warp-Antrieb in einem Sonnensystem zu benutzen (siehe u.a. DS9 5×15 “Im Lichte des Infernos”).
- Ein klassisches “plot hole” ist ganz sicher die Tatsache, dass sich weder Burnham noch Pike um das Wohlergehen von Commander Nhan zu kümmern scheinen. Immerhin wird das Außenteam von der Brückencrew überwacht. Dass es niemanden stört, dass Nhans Respiration zum Erliegen kommt, ist schon etwas seltsam. Natürlich ist hier das Überraschungsmoment (Nhan öffnet die Luftschleuse) eine Erklärung.
- Warum wird Airiam eigentlich nicht sofort aus dem Weltraum gebeamt?
- Auch im Finale von “James Bond 007: Moonraker – streng geheim” (1979) öffnet 007 eine Luftschleuse, um den Bösewicht Drax unschädlich zu machen. In “Die Nachfolge” (DS9 1×11) erleidet Quark beinahe dasselbe Schicksal.
- Dädalus (Δαίδαλος) ist eine Gestalt in der griechischen Mythologie, die als genialer Erfinder, Künstler und Techniker bekannt ist. Das Projekt Daedalus wiederum war eine in den 1970ern angefertigte Studie, deren Ziel darin bestand, einen realistischen Entwurf für ein unbemanntes interstellares Raumschiff zu erstellen. “Daedalus” heißt auch eine Episode von “Enterprise” (4×10).
Fazit: Spannung, Action, Drama, Charaktermomente – was will man mehr?!
“Projekt Daedalus” ist eine richtig starke Star Trek-Episode, die nahezu alles beinhaltet, was klassisches und gutes “Star Trek” ausmacht. Die Episode ist spannend und nimmt sich Zeit für die Charaktere. Die Dialoge haben Tiefgang und sind wunderbar gespielt. Auch an dramatischen Wendungen mangelt es dieser Episode ganz sicher nicht. Hinzu kommt die mittlerweile für “Discovery” obligatorische Action mit viel Tempo und grandiosen Spezialeffekten.
Noch viel wichtiger ist aber, dass “Projekt Daedalus” den staffelübergreifenden Handlungsbogen enorm voranbringt und den Grundstein für eine spannende Reststaffel legt. Einen Grund zum Meckern gibt es dieses Mal eigentlich nicht wirklich. Nennenswerte Drehbuchlöcher sind nicht festzustellen (außer vielleicht Nhans Zögerlichkeit und Pikes Überreaktion), sodass man der Newcomerin Michelle Paradise hier einen grundsätzlich gelungenen Einstand attestieren darf.
Ein kleiner Wermutstropfen ist allerdings die Tatsache, dass man das enorme Potenzial der Figur Airiam nicht so ausgeschöpft hat, wie man es hätte tun können – oder vielleicht auch müssen.
Hinsichtlich der Inszenierung merkt man einfach, dass mit “Star Trek”-Veteran Jonathan Frakes ein absoluter Fachmann am Werk war. Der Lens Flare-Exzess der vorigen Episode hat glücklicherweise keine Neuauflage gefunden, wurden diese Lichteffekte dieses Mal doch angenehm dosiert eingesetzt. Kameraführung, Schnitt, Ton und Musik sind – eigentlich wie immer – absolut top und mit das Beste, was aktuell über die Fernsehbildschirme und Kinoleinwände flimmert. “Discovery” ist nun schon seit einigen Episoden sehr konstant. So darf es weitergehen!
Bewertung
Handlung der Einzelepisode | [usr 5 max=”6″] |
Stringenz des staffel- und serienübergreifenden Handlungsstrangs | [usr 5 max=”6″] |
Stringenz des bekannten Kanons | [usr 3 max=”6″] |
Charakterentwicklung | [usr 5 max=”6″] |
Spannung | [usr 5 max=”6″] |
Action & Effekte | [usr 5 max=”6″] |
Humor | [usr 4 max=”6″] |
Intellektueller Anspruch | [usr 4 max=”6″] |
Gesamt | [usr 5 max=”6″] |
Episoden-Infos
Episodennummer | 24 (Staffel 2, Episode 9) |
Originaltitel | Project Daedalus |
Deutscher Titel | Projekt Daedalus |
Erstausstrahlung USA | Donnerstag, 14. März 2019 |
Erstausstrahlung Deutschland | Freitag, 15. März 2019 |
Drehbuch | Michelle Paradise |
Regie | Jonathan Frakes |
Laufzeit | 52 Minuten |