In “Among the Lotus Eaters” (“Unter den Lotosessern”) wandelt Captain Pike auf den Spuren von Odysseus. Ob die Irrfahrt nach Rigel VII den Rezensenten überzeugen konnte, lest ihr in unserer zweiten SPOILER-Rezension.
Das Drehbuch zur dieswöchigen Episode ist eine Co-Produktion und stammt aus der Feder von Trek-Veteranin Kirsten Beyer und Davy Perez, der vor allem für seine Arbeit an “Supernatural” bekannt ist. Die erzählte Geschichte knüpft einerseits direkt an die Originalserie an und greift andererseits auch ein Erzählmotiv aus der griechischen Mythologie auf. In Homers “Odyssee” landen Odysseus und seine Männer auf der Insel der Lotosesser, wo sie die Frucht des Lotosbaumes verzehren und anschließend ihr altes Leben vergessen. Man tausche Odysseus gegen Christopher Pike und die Lotophagen gegen die Bewohner von Rigel VII und schon hat man die jüngste Episode von “Star Trek: Strange New Worlds”…
Rückkehr nach Rigel VII
Rigel VII? Da war doch was! So ist es. Rigel VII ist nämlich neben Talos IV die erste ‘fremde neue Welt’ überhaupt, die man in “Star Trek” zu sehen bekam, und zwar in “Der Käfig” (TOS 0x01 “The Cage”), der ursprünglichen Pilotepisode von “Star Trek”, die 1964 produzierte wurde, aber erst 1988 als eigenständige Folge Weltpremiere feierte.
Die Handlung von “Der Käfig” spielt im Jahr 2254. Sie beginnt damit, dass Captain Pike (Jeffrey Hunter) die Folgen einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Außenmission auf Rigel VII verarbeiten muss, bei der drei Besatzungsmitglieder den Tod fanden. Pike wird daraufhin in eine mittelschwere Depression gestürzt, die ihn sogar dazu veranlasst, über eine Rückgabe seines Offizierspatents nachzudenken. Am Ende von “Der Käfig” gelingt es Pike jedoch, dieses emotionale Tief zu überwinden.
Fünf Jahre später (2259) stellt eine Aufklärungssonde der Sternenflotte fest, dass die damalige Außenmission die natürliche Entwicklung der Planetenbevölkerung – eine Gesellschaft auf dem Stand der Bronzezeit – kontaminiert hat. Pike (Anson Mount) und seine Leute sollen nun nach Rigel VII zurückkehren und die Scherben aufkehren, die sie selbst verursacht haben. Dafür muss ein Außenteam zum Planeten hinunterfliegen und undercover zunächst einmal klären, wie stark die dortige Gesellschaft beeinflusst wurde. Auf dem Planeten angekommen, werden Pike, La’an (Christina Chong) und Dr. M’Benga (Babs Olusanmokun) überraschend schnell als Angehörige der Sternenflotte enttarnt. Zudem muss das Außenteam entsetzt feststellen, dass die herrschende Klasse der ‘Palast-Kalar’ nicht nur das Sternenflotten-Delta als Hoheitszeichen verwendet, sondern deren Wachen sogar Phaser-Gewehre benutzen…
Erstmals echtes TOS-Feeling
Auch wenn Story respektive Drehbuch wiedermal das ein oder andere Logikloch erkennen lassen, gefällt mir die Prämisse von “Among the Lotus Eaters” ungemein gut. Denn die Episode beinhaltet vieles von dem, was ich mir für das TOS-Prequel “Strange New Worlds” von Anfang an erhofft hatte.
Einerseits greift man hier überaus geschickt einen Handlungsstrang aus der Originalserie auf, kontextualisiert diesen und erzählt die Geschichte auf interessante Weise weiter. Ich habe noch sehr gut in Erinnerung, dass mich der seltsame Angreifer in “Der Käfig” damals als Kind enorm irritiert hat, weil dieser so gar nicht außerirdisch und technisch fortschrittlich wirkte. “Among the Lotus Eaters” hat den Geschehnissen auf Rigel VII nun deutlich mehr Hintergrund verpasst. Und genau das zeichnet ein gutes Prequel ja auch irgendwie aus.
Andererseits hat die Episode bei mir – wie bisher noch keine andere Folge der Serie – auch heftige ‘Old Trek’-Vibes ausgelöst. “Among the Lotus Eaters” ist nämlich eine klassische ‘Planet of the Week’-Geschichte, die auf einer rückständigen Welt spielt. So wie einige TOS-Folgen. Das gefährliche Naturphänomen (Asteroidenstrahlung), das der Enterprise-Besatzung ordentlich zu schaffen macht, erinnert derweil an TNG. Also das ist doch “Star Trek” pur! Von allen bisherigen 14 SNW-Folgen fühlt sich “Among the Lotus Eaters” folglich am ehesten wie eine modernisierte TOS-Folge an.
Erinnerungen, die uns formen
Obendrauf gibt’s dann auch noch ein paar existentialphilosophische und gesellschaftskritische Dialoge, die vielleicht nicht das Niveau einer guten “The Next Generation”-Folge erreichen, aber dennoch für die heutigen Trek-Maßstäbe positiv überraschen. Sicher, an der ein oder anderen Stelle läuft Luq (Reed Birney) vielleicht etwas Gefahr, ins pseudophilosophische Geschwafel abzudriften. Aber summa summarum haben mir dessen Dialoge mit Pike recht gut gefallen, weil das hier erzählte Phänomen des Gedächtnisverlustes als eine Parabel auf verschiedene Aspekte unserer menschlichen Existenz interpretiert werden kann.
Zuvorderst ist hier natürlich die Anspielung auf Demenz zu nennen. Diese furchtbare Krankheit beeinflusst die kognitiven, sozialen und emotionalen Fähigkeiten eines Menschen und beraubt die Erkrankten oftmals ihrer identitätsstiftenden Lebenserfahrungen. Und das ist nicht nur für die Erkrankten selbst ein Martyrium, sondern stellt auch für die Angehörigen eine enorm belastende und fordernde Situation dar, insbesondere auf der emotionalen Ebene. Deshalb haben mich besonders Luqs Aussagen über die Unauslöschbarkeit von Liebe und familiären Bänden emotional durchaus abgeholt. Die Verbindung zwischen diesem zeitgenössischen Thema und dem uralten Lotosesser-Motiv aus der griechischen Mythologie ist schlichtweg genial. An dieser Stelle gebührt dem Autorenduo ein großes Lob. Da hat sich jemand Gedanken gemacht.
Spannend sind auch die in der Folge aufgeworfenen Fragen nach der Vergänglichkeit von Glück und der Bewältigung von Trauer. Glück kann sich durch einen Schicksalsschlag von einer Sekunde auf die nächste in tiefe Trauer und Verlustschmerz verwandeln. Freud und Leid liegen demnach so nah beieinander, dass uns deren Übergänge oftmals schlichtweg überfordern. Das gilt auch für Luq. Der will sich nämlich zunächst gar nicht an sein altes Leben erinnern, weil er den Schmerz des Verlustes mehr fürchtet als den bereits erlittenen Verlust von freudigen Erinnerungen. Am Ende kommt er jedoch zu der Erkenntnis, dass er sich geirrt hat: Viel schlimmer als der befürchtete Verlustschmerz war es, die vielen Glücksmomente mit seinem Sohn einfach vergessen zu haben.
Also mich haben diese Dialoge nun wirklich nicht kalt gelassen, ganz im Gegenteil.
Arbeit, die Identität stiftet?
Abgesehen von diesen existentialphilosophischen Überlegungen wird auch die Hierarchierung der Kalar-Gesellschaft kritisch kommentiert. Den ‘Feld-Kalar’ wird eingeredet, dass der Sinn ihres Lebens einzig und allein in ihrer Arbeitstätigkeit liegt; dass die harte Arbeit im Steinbruch deren Identität formt.
“Unsere Arbeit ist ein Segen. Wir haben einen Sinn. Deswegen sind wir hier.“
Luq
Luq: “Die Götter haben sich vor langer Zeit für zwei Arten von Kalar entschieden. Die, die nicht vergessen, unsere Zukunft planen und sich unsere Vergangenheit merken. Und die, die vergessen und die Arbeit der Gegenwart aufrechterhalten.”
Pike: “Schon praktisch, dass eine Gruppe die ganze Arbeit macht.”
Luq: “Das stimmt so nicht. Die Palast-Kalar sorgen dafür, dass der Rest von uns frei sein kann. Wir haben keine Vergangenheit und somit keine Last.”
Derweil macht sich die herrschende Elite einen faulen Lenz und beutet die Arbeiterklasse aus. Die ‘Palast-Kalar’ begründen diese Ungerechtigkeit mit einer Art ökonomischen Theorie der Arbeitsteilung und suggerieren ihren Untertanen einen gegenseitigen Benefit, den es in Wahrheit aber gar nicht gibt. Vielmehr werden die ‘Feld-Kalar’ manipuliert. Sie werden unwissend gehalten, was eine typische Strategie von autoritären Herrschern darstellt.
Ich finde diesen kurzen, aber aussagekräftigen Einblick in die Gesellschaftsstruktur der Kalar höchst interessant. Nicht nur deshalb, weil Herrscher-Narrative bezüglich (neo-) feudaler Strukturen kritisch reflektiert werden. Spannend ist nämlich auch die latent mitschwingende Kritik an der zeitgenössischen Vorstellung von ‘Arbeit’.
Unter dem Schlagbegriff ‘Zukunft der Arbeit’ wird schon seit einigen Jahren darüber diskutiert, ob das über Jahrhunderte tradierte Verständnis von ‘Arbeit’ heute noch zeitgemäß ist. Konzepte wie ‘Work-Life-Balance’ spielen vor allem bei der jüngeren Generation eine immer größer werdende Rolle. Hinterfragt wird aber zunehmend auch die ‘lebenslange’ Fixierung auf nur eine einzige Arbeitstätigkeit, also die berufliche Spezialisierung. Insbesondere das Fortschreiten der Digitalisierung sorgt dafür, dass das, was ‘Arbeit’ ist, derzeit neu definiert wird. Manch einer ist sogar der Ansicht, dass wir uns vollständig von den alten Vorstellungen der calvinistischen Arbeitsethik verabschieden sollten, damit wir uns in dieser Frage radikal neu orientieren können – Stichwort: ‘Anti-Work’.
“Among the Lotus Eaters” nimmt hier eine gemäßigte Position ein. Arbeit und Beruf können durchaus zur Identitätsbildung beitragen, sofern die Berufstätigkeit nicht nur reiner Selbstzweck ist, sondern vielmehr echte Berufung. Dies wird in verschiedenen Szenen deutlich, nämlich als Pike (Leader), La’an (Beschützerin), M’Benga (Heiler/Arzt) und Luq (Seelsorger) trotz Gedächtnisverlust ihre wahre Berufung erkennen – nicht mit dem Verstand, aber mit ihrem Herzen. Im Gegensatz dazu kann die erzwungene Arbeit im Steinbruch den Feld-Kalar keine Identität verschaffen. Weil diese Tätigkeit eben nicht ihrer Berufung entspricht. Eine schöne Parabel, wie ich finde.
Gleichwohl kann man auch in seinem Traumjob allein keine persönliche Erfüllung finden. Diese Lektion müssen zum Beispiel auch die beiden Workaholics Pike und Batel (Melanie Scrofano) erst noch lernen. Sie sind eben nicht nur Captains, sondern auch Menschen. Menschen, die auch mal Zeit für sich und ihre privaten Beziehungen brauchen.
Angesichts der Tatsache, dass Pikes Schicksalsuhr laut tickt, gewinnt diese Botschaft zusätzlich an Gravitas. “Carpe diem”… es könnte dein letzter sein!
High Lord Zacarias, der Langweilige
An dieser Stelle muss ich allerdings auch noch auf die Schwachpunkte der Episode eingehen. Und die liegen dieses Mal u.a. im Bereich der Figurenzeichnung.
Während ich mit der Prämisse der Geschichte, den philosophischen und gesellschaftskritischen Untertönen sowie der grundsätzlichen Dramaturgie der Folge recht zufrieden bin, stört mich abermals die generische Charakterisierung des Antagonisten der Folge: Yeoman Zac Nguyen. Oder besser gesagt: High Lord Zacarias (David Huynh). Dieser wird im Wesentlichen als typischer Hollywood-Villain charakterisiert, der angesichts einer Gefahrenlage prompt alle seine humanistischen Werte über Bord wirft und zu einem gnadenlosen Despoten und Racheengel mutiert.
Das ist ebenso einfallslos wie langweilig. Und es tut dieses Mal auch besonders weh, weil die überraschende Enthüllung, dass Zac überlebt hat, bei mir absolut funktioniert hat. Da wäre doch so viel mehr möglich gewesen…
Überzeugend fand ich hier nur den Schlussakkord, in welchem Pike Zac klarmacht, dass sich in einer Krisensituation der wahre Charakter eines Menschen offenbart. Und dass Zac bei diesem Charaktertest aber sowas von durchgefallen ist. Auch das ist meiner Meinung nach eine Botschaft, über die man durchaus mal nachdenken kann – insbesondere in einer Zeit der Dauerkrisen.
“[Rigel VII] zeigt uns auf, wer wir sind. […] Ich habe damals wirklich um Sie getrauert. Zac, es tut mir leid, dass Sie damals zurückgelassen wurden. Doch alles, was danach kam, war Ihr Zutun und dafür bin ich nicht verantwortlich.”
Captain Pike
Es bleibt aber dabei: Wir müssen weiterhin darauf warten, dass uns das moderne “Star Trek” endlich mal einen vielschichtigen Bösewicht präsentiert. Seit dem Start von “Discovery” hat mich bisher kein Antagonist wirklich überzeugen können. Und es waren eigentlich ziemlich viele.
Ich bin Erica Ortegas…
…und ich fliege das Schiff.
Mit diesem Satz ist dann auch schon zusammengefasst, wie die Charakterentwicklung von Erica Ortegas (Melissa Navia) in dieser Folge aussieht. Zwar bekommt sie dieses Mal deutlich mehr Screentime spendiert, wird aber mal wieder einzig und allein auf ihre Qualitäten als Pilotin der Enterprise reduziert.
Das ist abermals sehr ernüchternd und tut mir auch für Melissa Navia sehr leid. Nach 14 Folgen stellt sich für mich tatsächlich die Frage, welchen Mehrwert dieser Charakter für die Serie haben soll. Man hätte schließlich auch Number One weiterhin das Schiff fliegen lassen können.
Ich persönlich mag Ortegas als Figur bisher leider überhaupt nicht. Vor allem deshalb nicht, weil mir ihre schnippische Art und ihre zur Schau gestellte (Pseudo-) Coolness auch im Reallife enorm unsympathisch wäre. Davon mal abgesehen, hat Ortegas als Figur auch ein Glaubwürdigkeitsproblem, weil ihre respektlose Art gegenüber ihren Vorgesetzten – vor allem gegenüber Spock – einfach nicht den Ansprüchen an Sternenflottenoffiziere gerecht wird. Manche Leute passen einfach nicht in hierarchische Strukturen. Ortegas scheint mir eine davon zu sein. Das ist ja eigentlich ein spannender Ansatz für diese Figur, aber das müsste man eben auch mal explizit thematisieren. Für meinen Geschmack teilt sie zu viel aus, bekommt aber null Gegenwind zurück.
Hier wäre es die Aufgabe des Autorenstabes, Ortegas mehr Background zu verschaffen – am besten mit einer Hintergrundgeschichte, die sie nachträglich etwas sympathischer erscheinen lässt. Das hat man bisher leider versäumt. Schade.
Mikrokosmos auf Rigel VII
Während mich das Drehbuch weitestgehend überzeugen kann, bin ich mit der Inszenierung der Folge eher unzufrieden. Ich weiß nicht, ob Regisseur Eduardo Sánchez mit einem limitierten Budget auskommen musste, aber mich beschleicht das Gefühl, dass “Among the Lotus Eaters” das atmosphärische Potenzial, das in der Geschichte steckt, unter dem Strich nur in Ansätzen herausgeholt hat.
Zwar sind die upgedateten Kostüme der Planetenbewohner absolut gelungen und auch die Burg wirkt sowohl von außen als auch im Inneren durchaus spektakulär. Der Rest der Szenerie vollzieht sich aber in einem Mikrokosmos vor der VR-Wall, dem es sowohl an Abwechslung als auch an Lebendigkeit fehlt. Grundsätzlich hatte ich den Eindruck, dass der Episode deutlich mehr Komparsen und auch ein weiteres physisches Set, etwa eine Siedlung ähnlich der in der “The Orville”-Episode “Mitternachtsblau”, gutgetan hätten. Die Illusion einer richtigen Gesellschaft wollte sich bei mir jedenfalls nicht einstellen, zumal mich auch die abrupten Ortswechsel gestört haben. In der Summe wirken manche Montagen fast schon dilettantisch. So als ob man in einer Low-Budget-Produktion fehlende Kulissen kaschieren müsste.
Nicht optimal inszeniert ist auch das Geschehen auf der Enterprise. Hier bemüht sich die Episode zwar sichtlich, den durch den Gedächtnisverlust ausgelösten Zustand von Angst, Unsicherheit und Verwirrung innerhalb der Crew zu transportieren. Die TNG-Episoden “Augen in der Dunkelheit” (TNG 4×17 “Night Terrors”) und “Mission ohne Gedächtnis” (TNG 5×14 “Conundrum”) waren in dieser Beziehung aber deutlich mitreißender.
Zu guter Letzt muss man leider auch in dieser Folge wieder die teils exzessiv zur Schau gestellte Gewaltdarstellung kritisieren. Ich denke, es hätte auch gereicht, wenn Pike Zac ein oder zweimal mit der Faust geschlagen hätte und nicht fünfmal mit dem Phaser-Gewehr mitten ins Gesicht (plus zwei Tritte mit dem Stiefel in den Bauch). Aber gut, das ist leider der Zeitgeist.