Das Abenteuer von Admiral Picard und Captain Riker auf der U.S.S. Titan geht weiter. Lest hier unsere spoilerfreie Rezension zu Episode 3×02 “Disengage”.
Was meinen wir mit “spoilerfrei”?
Es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen dazu, was “spoilerfrei” bedeutet. Damit ihr selbst entscheiden könnt, ob ihr die Rezension vorab lesen möchtet, machen wir hier transparent, was wir darunter verstehen:
- Wir verraten keine wichtigen und unerwarteten Wendungen der Handlung bzw. Informationen über die fiktiven Welt und ihre Figuren.
- Was im Vorfeld durch Vorschauclips und Trailer gezeigt wird, ist kein Spoiler.
- Was im Cold Open (vor dem Vorspann) bzw. im ersten Akt (bei Episoden ohne Cold Open) passiert, ist kein Spoiler.
- Handwerklichen Aspekte (Schauspiel, Drehbuch, Bühnenbild, Soundtrack, Spezialeffekte) sind keine Spoiler, sofern sie nichts Wichtiges über die Handlung verraten.
Disengage
Die S.S. Eleos mit Picard, Riker und den beiden Crushers an Bord ist einem unbekannten aber vielfach überlegenen Schlachtkreuzer ausgeliefert. Als eine Torpedosalve das angedockte Shuttle der Titan zerstört, verliert die Crew ihre letzte Rückzugsmöglichkeit. Schnell wird klar, dass das Ziel der Angreifenden Jack Crusher ist.
Handlung
In “Disengage” setzen Autoren Christopher Monfette und Sean Tretta die beiden bekannten Storystränge fort. Während im Ryton-System Picard und Co. Bekanntschaft mit Captain Vadic machen, verfolgt Agent Musiker eine Spur, um die Drahtzieher des Anschlages auf M’Talas Prime ausfindig zu machen.
Vorweg: Die äußere Handlung von “Disengage” zeigt wie üblich ein paar kleinere Schwächen. Picards und Rikers Versuche, die Eleos gegen Vadic zu verteidigen sind überraschend wirkungsvoll. Und Shaw scheint sich die ganze Folge nicht entscheiden zu können, ob er Seven vertrauen oder aus dem Verkehr ziehen will. Aber das sind vergleichsweise belanglose Kleinigkeiten, die angesichts des interessanten Kernproblems, das die Episode behandelt, verziehen werden können.
Während die Agentenstory um Raffi nach wie vor eher zweckmäßig vor sich hinplätschert, hat der A-Plot einen klaren Handlungs- und Spannungsbogen. Sowohl die Eleos als auch die Titan sind Captain Vadics Raumer Shrike hofflungslos unterlegen, was die Auslieferung Crushers zu einem wahren Dilemma macht, das vor dem Hintergrund einer tickenden Uhr beantwortet werden muss.
Damit begibt sich “Star Trek: Picard” auch erstmals in Gefilde moralischer Ambivalenz. Denn wie wir bereits im Auftakt der Episode erfahren, hat Jack Crusher einiges auf dem Kerbholz. Außerhalb des Föderationsraumes könnte es tatsächlich legitime Gründe für Strafverfolger und Kopfgeldjäger geben, den jungen Mann festzunehmen.
So müssen direkt zwei Spannungsfelder diskutiert werden: Erstens die utilitaristische Abwägung des Wohles von 500 Besatzungsmitgliedern der Titan gegenüber dem Wohl des einzelnen Jack Crusher. Und zweitens die deontologische Frage, ob es auch außerhalb der eigenen Jurisdiktion geboten ist, einem Kriminellen Asyl gegenüber einer Strafverfolgung zu gewähren, die vermutlich vor inhumanen Strafen nicht zurückschreckt.
Zwar investiert “Disengage” vergleichweise viel Zeit in die Diskussion dieser Dilemmas, zu meiner anfänglichen Verwunderung bleibt sie aber inhaltlich recht oberflächlich. Der Grund dafür ist, dass die vordergründigen moralischen Aspekte von einer persönlich-emotionalen Frage begleitet werden: Picards Verhältnis und Pflichtgefühl gegenüber Jack als Beverlys Sohn.
Die B-Story ist leider erneut eine zähe und vorhersehbare Angelegenheit, deren Hauptzweck darin zu bestehen scheint, einen weiteren Charakter einzuführen. Raffi bewegt sich von einer unerfreulichen Begegnung zur nächsten, wobei der Plot ihrer Handlung von Sackgasse zu Sackgasse mäandert.
Charaktere und Dialoge
Viel wurde darüber geschrieben und erzählt, dass man in Stewarts Spiel die energischen Qualitäten von Captain Picard vermisse. Mit “Disengage” wird klar: Das war eine bewusste Entscheidung von Stewart, nicht Altersmüdigkeit. Mit der wachsenden Bedrohung auf der Eleos ist Picard plötzlich wieder “voll da”. Mit fester Stimme, Umsicht und Entschlossenheit spielt Stewart einen Jean-Luc Picard, der auch einer vermeintlich ausweglosen Lage gewachsen ist.
Von der ersten bis zur letzten Szene bekommen Fans einen Picard, wie ihn viele seit “Nemesis” vermisst haben. Allerdings gibt es diesen Jean-Luc Picard nicht exklusiv. Die zutiefst persönliche Komponente der A-Story gibt Stewart Gelegenheit, auch Picards Verletzlichkeit und inneren Konflikt zu zeigen. In den letzten Szenen der Episode kommuniziert Stewart mit einem Blick mehr, als in manchen minutenlangen Szenen zuvor gesagt wurde.
Die Episode gibt uns auch erstmals Gelegenheit Captain Shaw besser kennenzulernen und einen Eindruck von seinen Entscheidungsprozessen zu gewinnen. Leider komme ich aus der Episode teils verwirrt, teils ernüchtert heraus. Das Gute vorweg: Shaw ist ein kompetenter Captain und gegen Ende der Episode überrascht er mich damit, offenbar für unterschiedliche Eventualitäten Vorkehrungen getroffen zu haben, auch solche, die er vorher kategorisch ausgeschlossen hatte.
Allerdings ist Shaw in dieser Folge als Paragraphenreiter und Utilitarist gezeichnet, der naiv Leben abzählt und gegeneinander rechnet. Das ist eine intellektuell eher unspannende Grundhaltung, die sich leicht aushebeln lässt (Minuspunkte für Will Riker, der das zwar erkennt, aber außer allgemeiner Empörung kein substantielles Argument für eine deontologische Gegenposition vorbringen kann). Wenig glaubwürdig finde ich zudem, dass Seven ihn mit einem Appell an seine Eitelkeit relativ einfach dazu bringen kann, eben diese utilitaristischen Prinzipien in einer frühen Schlüsselszene der Folge über Bord zu werfen.
Ein echtes Highlight ist Amanda Plummer als Captain Vadic, die sie als wahre Psychopathin mit herrlicher Hingabe spielt. Kindlich verspielt, intelligent und sadistisch zugleich ist sie eine tolle Gegenspielerin, die ab der ersten Szene völlig mühelos auf Augenhöhe mit Stewart und Stashwick parliert, wenn nicht gar die Szenen stiehlt. Auch wenn wir wenig über Hintergrund und Motivation der Figur erfahren, ist aber schon nach diesem ersten Auftritt klar, dass Amanda Plummer die beste Besetzung für eine Antagonistin seit Richardo Montalbans Khan ist. Sie kann sicherlich die ein oder andere Unebenheit im Drehbuch überspielen und vergessen machen, wenn es darauf ankommt.
Inszenierung
Wie auch der Pilot wird diese Episode von Douglas Aarniokoski in Szene gesetzt. “Picard” wagt sich erstmals bewusst in eher klassische Gefilde des “Star Trek”-Storytellings und Aarniokoski inszeniert dies unaufgeregt und kompetent. Obwohl das Dilemma interessant und persönlich zugleich ist und vor dem Hintergrund einer tickenden Uhr gelöst werden will, mag sich aber das letzte Quantum Spannung nicht einstellen. Im A-Plot ähnelt “Disengage” damit im Guten wie im Schlechten von der Dramaturgie einer “The Next Generation”- oder “Voyager”-Episode wie keine andere in “Picard”.
Dagegen fällt die B-Handlung auf M’Talas spürbar ab. Raffi geistert durch die immer gleichen Winkel des offenbar winzigen Sets von District 6. Es kommt dabei keinerlei Spannung auf. Ich weiß nicht, ob es objektiv so ist, aber gefühlt verbringt “Disengage” deutlich mehr Zeit auf M’Talas Prime als die erste Episode.
Eine unterwartete Schwachstelle der Folge sind die visuellen Effekte. Zwar hat “Disengage” spektakuläre Ideen, was sich mit modernen Mitteln im Genre umsetzen lässt, aber mit der künstlerischen Umsetzung hadere ich. Ein frühes Beispiel ist die Darstellung eines Traktorstrahls. Statt des üblichen in Streifen changierenden Lichtkegels erscheint er in “Disengage” als elastisch wabernder Wirbel aus übersättigten Wolkenfetzen. Der Effekt wäre einem Fantasy- oder Superheldensetting angemessen, in “Star Trek” empfinde ich ihn als unpassend.
In der diffusen Beleuchtung des Raumdocks und der Warpsterne der ersten Folge fiel mir ein weiteres Problem nicht negativ auf, das in “Disengage” aber ins Auge sticht: “Picard” hat ein Beleuchtungs- und Materialproblem was die Raumschiffe anbelangt. Die Schiffe glänzen unnatürlich stark und es streut zu wenig Licht auf den Oberflächen. Die Hülle der Titan scheint die Beschaffenheit einer blanken Blechbüchse zu haben, die Shrike glänzt wie ein Plastikspielzeug – das wirkt unnatürlich.
Sicherlich weiß niemand von uns, welche optischen Eigenschaften Hightech-Materialen für den Raumschiffbau im 25. Jahrhundert haben werden. Aber der Look von “Picard” hat sich spürbar von der Ästhetik realer NASA-Aufnahmen oder “naturalistischer” Klassiker wie Stanley Kubriks “2001” entfernt und lehnt sich nun stärker an Comicverfilmungen und Videospiele an (Anzeichen dafür fanden sich auch schon in dem Staffel-2-Finale “Farewell”). Das ist im Wesentliche eine Geschmacksfrage. Aber diesem Rezensenten, der auch ansonsten nichts dagegen hätte, wenn “Star Trek” die wissenschaftlichen Aspekte seines Science-Fiction-Settings ernster nehmen würde, gefällt der stilistische Schwenk nicht.
Unabhängig von dieser B-Note muss man der Episode abermals bescheinigen, fantastische Bilder und Klangwelten auf Bildschirm und Boxen zu zaubern. Das Finale der Episode ist zudem ein Versprechen darauf, dass wir nächste Woche noch bedeutend mehr zu staunen haben werden.
Beobachtungen
- Die Eleos ist ein Schiff der Mariposas, der medizinischen Hilfsorganisation, die auf Theresa und Rios zurückgeht.
- Das Shuttle, mit dem Picard und Riker zur Eleos geflogen kamen, hieß Saavik.
- Sneed ist gut vernetzt. Laut Computer-Anzeige gehören zu seinen Kontakten Morn, Quark, Brunt und Captain Okona
- Sneed wird von von Aaron Stanford gespielt. Der Schauspieler ist bekannt als James Cole aus “12 Monkeys”, der Serie von Terry Matalas, in der er gemeinsam mit Todd Stashwick (Captain Shaw) vor der Kamera stand.
- James Cole ist auch einer der Decknamen unter denen Jack Crusher operiert.
- Wo wir gerade dabei sind: “Splinter” ist nicht nur der Name des speziellen “Cocktails” von Sneed, sondern auch die umgangssprachliche Bezeichnung der Zeitreisetechnologie aus “12 Monkeys”.
- Die Ankunft der Titan-A erinnert stark an das Eintreffen der Enterprise-E bei der Schlacht von Sektor 001 in “First Contact“
- Vadic ist gut informiert. Es tun sich direkt mehrere Fragen auf. Nicht zuletzt, warum sie im Gegensatz zu ihrer Crew keine schwarze Kutte mit weißer Vogelmaske trägt.
- Raffi scheint eine echte Todessehnsucht zu haben. Die zweite Episode in Folge fragt sie sich wenig subtil und sehr aggressiv in der Unterwelt durch. Ist das die Idee der Sternenflotte von Geheimdienstarbeit?
- Hat niemand Jack Crusher gescannt, als er an Bord kam? Verschiedene Aspekte der Handlung von “Disengage” hätte man sehr viel einfacher und schneller auflösen können, wenn jemand mal einen Tricorder zur Hand genommen hätte.
- Das Ende der Folge verwundert mich ein wenig, weil sie den Eindruck erweckt, Shaw hätte sich und die Brückencrew bewusst auf diesen Ausgang der Ereignisse vorbereitet. Dabei hatte er zuvor Picard eine Abfuhr erteilte, als dieser mit ihm über genau diese Möglichkeit sprechen wollte. Ich unterstelle, dass Shaw sehr wohl mit allen Eventualitäten geplant hat und Picard einfach auflaufen ließ.
Mit Rücksicht auf die Leser:innen, die die Episoden noch nicht gesehen haben, bitten wir in den Kommentaren zu diesem Beitrag auf Spoiler zu verzichten. Danke!
On Screen: Serien-Podcast
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“Ein echtes Highlight ist Amanda Plummer als Captain Vadic, die sie als wahre Psychopathin mit herrlicher Hingabe spielt. Kindlich verspielt, intelligent und sadistisch zugleich”
ENDLICH jemand der das wie ich sieht ! JA, die Figur hat was fieses Komödiantisches ! Ich mochte schon Captain Angel bei Strange New Worlds, und Vadic hat auch diesen schönen fiesen Humor 🙂
“Eine unterwartete Schwachstelle der Folge sind die visuellen Effekte. “
Hm… Wundert mich, ich fand die Effekte klasse…
Immerhin ist erfreulich, dass die zu kritiserenden Punkte nicht mehr so ausgeprägt sind, wie in Discovery. Und anders als in der 2. Staffel von Star Trek:Picard hat man den Eindruck wirklich Star Trek zu sehen. Dass Shaw Picard einfach auflaufen ließ, glaube ich ebenso. Raffi ist eben Raffi. Worf bringt es im Trailer ja auf den Punkt: “I was once like her. Irrational. Violent.” Dass das Shuttle den Namen “Saavik” hatte, ist eine schöne Ehrung für diesen etwas vergessenen Charakter und eine nachträgliche Verneigung vor Kirstie Alley, die im vergangenen Dezember verstarb. Dass das Shuttle nach Saavik benannt ist, könnte… Weiterlesen »
Ich stimme dieser Rezension absolut zu. Insbesondere freut es mich, nicht der einzige zu sein, dem der Look der Raumschiffe missfällt. Es fehlt eigentlich nur noch der Hinweis in den Credits “created in Unreal Engine 4”
Aber auch alle positiven Aspekte teile ich. Insgesamt gefällt mir die 3. Staffel bedeutend besser und ich schaue sie wirklich gerne.
Was für ein verantwortungsloser Titan-Captain. Nein, wirklich, wie lächerlich ist das? Was ist nur aus der Sternenflotte geworden? Einfach nur traurig, dieses neue Trek…