Es ist ein offenes Geheimnis: Viele Fans des “Star Trek” der 90er-Jahre sind schon längere Zeit mit dem Franchise in unterschiedlichem Maße unglücklich. Nach dem Ende von “Voyager” strapazierten mit “Enterprise”, den Kelvin-Filmen und “Discovery” zwei Prequels und ein Reboot die Kontinuität des Universums, dann unterlief “Picard” mit voller Absicht die Erwartungen des Publikums an eine TNG-Fortsetzung, und “Lower Decks” verlangt Fans ein hohes Maß an Selbstironie ab, um unterhaltsam zu sein.
Update 2: Anlässlich des deutschen Starts von “Strange New Worlds” am 8. Dezember 2022 veröffentlichen wir den Artikel erneut und haben Kleinigkeiten aktualisiert.
Update 1: Dies ist die aktualisierte und erweiterte Version eines Zwischenfazits, das ich ungefähr zur Halbzeit von “Strange New Worlds” gezogen hatte.
Langer Rede, kurzer Sinn: Das “Star Trek” mit dem viele Fans in den 90ern groß geworden sind, ist seit rund 20 Jahren von der Bildfläche verschwunden. Und vielen Zuschauer:innen stößt es seit Jahren böse auf, dass ein ums andere Mal unter der Ägide von Alex Kurtzman neue “Star Trek”-Serien das Licht der Welt erblicken, die teilweise deutlich anders gestrickt sind, als “Roddenberry- und Berman-Treks” vergangener Tage.
Was meinen wir mit “spoilerfrei”?
Es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen dazu, was “spoilerfrei” bedeutet. Damit ihr selbst entscheiden könnt, ob ihr die Rezension vorab lesen möchtet, machen wir hier transparent, was wir darunter verstehen:
- Wir verraten keine wichtigen und unerwarteten Wendungen der Handlung bzw. Informationen über die fiktiven Welt und ihre Figuren.
- Was im Vorfeld durch Vorschauclips und Trailer gezeigt wird, ist kein Spoiler.
- Was im Cold Open (vor dem Vorspann) bzw. im ersten Akt (bei Episoden ohne Cold Open) passiert, ist kein Spoiler.
- Handwerklichen Aspekte (Schauspiel, Drehbuch, Bühnenbild, Soundtrack, Spezialeffekte) sind keine Spoiler, sofern sie nichts Wichtiges über die Handlung verraten.
Das polarisiert. Und dabei geht es nicht immer sachlich zu. Da werden kreative Designentscheidungen zu unentschuldbarer Blasphemie gegen den Kanon erhoben (klingonisches Haupthaar und Teppiche sind dabei entscheidende Kontroversen), den weitgehend serialisierten Geschichten die Schuld für streckenweise Langeweile und Unoriginalität gegeben, und die Dekonstruktion be- und geliebter Figuren als Vergewaltigung von Kindheitserinnerungen beweint. All das entlädt sich regelmäßig in Reviewbombing auf Bewertungsportalen. Und rund um selbsternannte Kanonwächter hat sich ein regelrechtes Ökosystem der Aversion gebildet, in dem einige aus Überzeugung und andere aus Geld- und Geltungssucht mitmischen. In jedem Fall bläst Kurtzmans Serien von einer lauten Gruppe von Fans seit Jahren starker Gegenwind entgegen.
Hosen runter – damit ihr wisst, mit welchen Vorbehalten/Erwartungen ich an “Strange New Worlds” herangegangen bin:
Ich gehöre nicht zu den Leuten, die die neuen Serien aus Prinzip in den Staub treten wollen, weil sie nicht “Star Trek nach Kochrezept” sind. Spätestens der Kontrast zwischen “Enterprise” und Ron Moores “Battlestar Galactica” hat schon Anfang des Jahrhunderts klar gemacht, dass sich “Star Trek” in kreativer Stagnation befand, und weit hinter dem einst unter “The Next Generation” und “Deep Space Nine” verfolgten Anspruch zurückfiel, neben packenden Science-Fiction-Geschichten auch erstklassiges Charakter-Drama auf der Höhe der Zeit zu präsentieren. Daher war ich einigermaßen erleichtert, dass die Serien unter Kurtzman sich trauten, mit dem Franchise zu experimentieren, auch wenn ich die Ergebnisse bei den Live-Action-Serien für wenig gelungen finde.
Was ich Kurtzmans Ägide jedoch wirklich krumm nehme, sind die extrem schwachen Drehbücher und die Priorisierung von Nostalgie und (dramatischen wie visuellen) Schaueffekten, während ehemals wichtige Erzählprinzipien wie Toleranz, kritischer Rationalismus und humanistischer Existenzialismus zu kaum mehr als Lippenbekenntnissen verkümmern. Ich halte das für eine Masche, um einerseits (unverdient) vermeintliche kulturelle Relevanz in Tradition zu vorangegangenen Jahrzehnten vorzutäuschen, während man sich in Wirklichkeit an massentaugliche Sehgewohnheiten der Marke “Marvel”/”Star Wars” anbiedert.
Aber wenn man Kurtzman etwas nicht vorwerfen kann, dann taub gegenüber der gefühlten Großwetterlage in sozialen Medien zu sein. Die dramatischen Veränderungen, die “Star Trek: Discovery” und “Star Trek: Picard” von Staffel zu Staffel erfahren haben, lassen sich schwerlich anders erklären, als den lautesten und schärfsten Kritikern zumindest mit symbolischen Gesten Entgegenkommen zu signalisieren.
Strange New Worlds
Und hier kommt “Star Trek: Strange New Worlds” ins Spiel. Eine Serie, die vom Scheitel bis zur Sohle darauf getrimmt zu sein scheint, möglichst viel Wohlwollen und wenig negative Reaktionen der lautesten Kritiker zu provozieren, die sich ein “Star Trek” von vor 30 Jahren zurückwünschen. Der Pitch ist: Wir gondeln mit dem Flagschiff der Sternenflotte von Woche zu Woche zu anderen Planeten und zeigen dabei wieder Stories, die nach einer Fernsehstunde ihren logischen Abschluss erreichen. Eine starke Serialisierung gibt es dennoch: Fast jede Episode hat dauerhafte Konsequenzern für mindestens eine der Hauptfiguren, sodass “Strange New Worlds” in der Mischung von prozeduralen Episoden und übergreifender Erzählung durchaus an “Deep Space Nine” und “Enterprise” erinnert.
Die Mischung von prozeduralen Episoden und übergreifender Erzählung erinnert am Ehesten an “Deep Space Nine” und “Enterprise”
Es geht damit los, dass Anson Mounts Captain Pike zurückkehrt. Die Serie schließt an das Ende von “Discoverys” wirrer zweiter Staffel an, und begleitet die Enterprise und ihre Crew auf dem Beginn einer neuen Fünf-Jahresmission. Wieder mit dabei sind Ethan Peck als Spock und Rebecca Romijn als Nummer Eins AKA Una Chin-Riley. Neue Gesichter in bekannten Rollen sind Cecia Rose Gooding als Kadettin Uhura, Jess Bush als Schwester Christine Chapel und Babs Olusanmokun als Doktor M’Benga. Neue Figuren verkörpern Christina Chong als Sicherheitschefin La’an Noonien-Singh (ja, die Familie Noonien-Singh), Melissa Navis als Steuerfrau Erica Ortegas und Bruce Horak als Aenar-Chefingenieur Hemmer.
Die erste Staffel mit zehn Episoden ist in den USA über Paramount+ gelaufen, Zeit also ein Fazit zu ziehen. Soviel sei bereits erwähnt: “Strange New Worlds” legt mit Abstand den besten Start der neuen Live-Action-Serien hin, und stellt die ersten Staffeln von “Discovery” und “Picard” locker in den Schatten. Allerdings ist das auch keine sonderlich hohe Latte.
Logbucheinträge
Unter den Episoden sind viele vertraute Formate dabei. Es geht im Piloten “Strange New Worlds” mit einem missglückten Erstkontakt los, gefolgt von einem spirituell angehauchten “Sense of Wonder”-Mysterium in “Children of the Comet”. In “Ghosts of Illyria” kämpft die Crew gegen eine seltsame Krankheit an, während “Memento Mori” mit einem Remake von “Balance of Terror” aufwartet. “Spock Amok” ist eine eher augenzwinkernde Folge mit Fokus auf die Crew, im Kontrast zur bitterernsten “Lift Us Where Suffering Cannot Reach”, die sich an einer echten moralischen Parabel versucht. In “The Serene Squall” wird die Enterprise von Piraten gekapert, während sie in “The Elysian Kingdom” in das Fantasy-Königreich eines Kinderbuchs transformiert wird. Eine Homage an Ridley Scotts “Alien” gibt es in “All Those Who Wander”. Den Abschluss der Staffel macht “A Quality of Mercy”, einem Mix aus “Yesterdays Enterprise”, “Trials and Tribbleations” und – abermals – “Balance of Terror”.
Die Episoden sind, wie unter Kurtzman üblich, von herausragender handwerklicher Produktionsqualität. Ich würde mich sogar zu der Aussage hinreißen lassen, dass hier nochmal eine Schippe auf den von “Discovery” etablierten hohen Standard draufgelegt wurde. Insbesondere die visuellen Effekte spielen in der ersten Liga. Ebenfalls nicht anders als zu erwarten ist die schauspielerische Leistung des Casts tadellos und die meisten Figuren sind nicht nur interessant, sondern alle auf ihre Art tatsächlich sympatisch. Zwei Enttäuschungen gibt es: Erstens die unerwartet blasse erste Offizierin Una Chin-Riley, die hinter der eindringlich gespielten Sicherheitschefin La’an Noonien-Singh zu verschwinden scheint. Zweitens darf Melissa Navias Lt. Ortegas außer ein paar flotten One-Linern nichts beitragen. Der Steuerfrau ist in 10 Episoden keinerlei Charakterentwicklung vergönnt.
Die visuellen Effekte spielen in der ersten Liga
Die Drehbücher sind indes ein Gemischtwarenladen, nicht nur vom Stil, sondern auch bei der Qualität. Über gutes Mittelmaß kommt keine der Episoden hinaus. Positiv: Man gibt sich streckenweise Mühe, die “Science” wieder in “Science-Fiction” zu packen. Gute Beispiele hierfür sind vor allem “Children of the Comet” und “Memento Mori”. Leider sind auch die berühmt-berüchtigten Zeitkristalle aus “Discovery” sind wieder mit dabei, die zwar den Namen einer echten wissenschaftlichen Kuriosität aufgreifen, aber dieser völlig falsche Eigenschaften andichten. Und auch abseits der Wissenschaft finden sich hier auch in fast jeder Episode haarsträubende Logiklöcher und Inkonsistenzen.
Trotzdem: Gerade weil die A-Plots der Episoden nicht aufeinander aufbauen, türmen sich die damit verbundenen Probleme auch nicht von Woche zu Woche ins Unermessliche auf. Der eingebaute Story-Reset am Ende jeder Folge mildert auf jeden Fall die Tragweite der Logik- und Kontinuitätsprobleme. Auch sind die Plots sonst im Großen und Ganzen ein spürbares Stück besser als in den Schwesterserien.
Leider sind die Drehbuchautor:innen beim klassischen “Star Trek”-Werteportfolio nicht immer sattelfest. Das ist für mich besonders schmerzlich im Finale der Staffel, das eine der besten Episoden des Franchises zitiert und deren Botschaft in ihr absolutes Gegenteil verkehrt. Aber auch “Memento Mori”, “Lift Us Where Suffering Cannot Reach” und “All Those Who Wander” senden teilweise höchst fragwürdige Botschaften.
Figuren
Die meisten Charaktere haben in zehn Episoden tatsächlich (teils sehr überschaubare) eigene Handlungsbögen und Entwicklungen mitgemacht. Insbesondere bei Pike, Spock, Chapel und Uhura hat diese Staffel ziemlich erfolgreich und nachvollziehbar die Weichen in Richtung “The Original Series” gestellt. Teilweise sogar so stringent, dass man sich fragt, was in der bereits bestätigten zweiten und eventuell weiteren Staffeln noch an Raum für Weiterentwicklung bleiben soll. Aber auch La’an Noonian-Singh, Hemmer und M’Benga haben kleine und sehenswerte Entwicklungen durchgemacht.
Nicht alle diese Fäden haben sich immer natürlich in die wöchentlichen Episodenplots eingefügt, und bei manchen war das Timing innerhalb der Staffel durchaus seltsam. Insbesondere das Pacing von M’Bengas Bogen holperte stark. Die Kürze der Staffel führt am Ende von nur zehn Episoden leider dazu, dass vor allen Dingen Nummer Eins und Erica Ortegas auf der Strecke bleiben. Auch die Handlungsbögen von M’Benga und Hemmer wirken im Rückblick bedauernswert dünn.
Unterm Strich bleibt ein durchweg charmanter, sympathischer und starker Eindruck dieser Crew der Enterprise, mit der man gerne noch einige Jahre gemeinsam zu fremden Welten aufbrechen möchte.
Klare Empfehlung
Wirft man einen Blick auf die Review-Aggregatoren, so ergibt sich ein klares Bild: “Strange New Worlds” hat bei der Kritik und dem Publikum die Mission erfüllt, im dritten Wurf eine gefällige “Star Trek”-Live-Action-Serie abzuliefern. Während ich diesen Artikel für den Deutschlandstart aktualisiere, liegt die erste Staffel bei 99% Kritiker- und 80%-Zuschauerzustimmung bei Rotten Tomatoes und 76 Punkten Metascore bzw. 6.8 Userscore bei metacritic.com.
Können wir es also abkürzen und einfach sagen: Alles richtig gemacht?
Für die meisten Zuschauenden kann man das getrost bejahen. “Strange New Worlds” bekommt eine ganz klare Empfehlung für alle, die sich auch nur am Rande für “Star Trek” interessieren. Der sympathische Cast und die visuellen Effekte alleine sind Grund genug, der Serie eine Chance zu geben.
Ja, aber…
Was mich schon nach wenigen Folgen an stutzig gemacht hat, war die erwartungskonforme Stromlinienförmigkeit, die “Strange New Worlds” bei vielen oberflächlichen Kleinigkeiten an den Tag legt, während unter der Haube sehr viel von dem auch hier im Argen ist, was bereits “Discovery” und “Picard” plagte: Die Drehbücher bewegen sich häufig einfach zu weit unter dem Niveau der meisten “TOS”-, “TNG”- und “DS9”-Folgen. Und dann gibt es auch noch einen Makel, der bereits “Voyager” beinahe und “Enterprise” endgültig zum Verhängnis wurde: Viele Plots sind Aufgüsse bekannter und bereits besser erzählter Stories.
Ja, die Fans, die sich an zu viel Ambivalenz in den Charakteren der Schwesterserien gestört haben, bekommen hier strahlendere Held:innen vorgesetzt, und ja, der Abschluss der A-Plots in einer Folge ist befriedigender, als 8-11 Episoden ergebnislos zwischen Staffel-Pilot und -Finale zu mäandern. “Strange New Worlds” ist eindeutig “wohlfühliger” als anderes Gegenwarts-“Star Trek”. Außerdem finde ich erfreulich, dass an der Emotionsschraube gedreht wurde, und wir deutlich weniger Melodrama erleben als z.b: bei “Discovery”.
“Strange New Worlds” ist eindeutig “wohlfühliger” als anderes Gegenwarts-“Star Trek”
Gleichzeitig nehmen die Drehbücher genau die selben künstlich erzwungenen Wendungen, wie sie uns seit Jahr und Tag in den Schwesterserien aufstoßen. Bereits am Ende der dritten Folge hatte “Strange New Worlds” alle meine Hoffnungen darauf zerstört, dass der Writers Room dieser Serie eine bessere Balance zwischen Glaubwürdigkeit der Charaktere und Plots einerseits und bequemer und reißerischer Dramatik andererseits finden würde.
Déjà vu
Leider muss “Strange New Worlds” mit zwei großen Hypotheken kämpfen, denen in der aktuellen Begeisterung über die Rückkehr von Pike und der Enterprise meines Erachtens zu wenig Bedeutung beigemessen wird und sich langfristig als echte Belastung erweisen können:
- “Strange New Worlds” ist schon wieder ein Prequel und durch seine räumlich und zeitliche Nähe zu “The Original Series” und der Verwendung nicht gerade weniger Figuren aus eben dieser Serie beim Geschichtenerzählen stark eingeschränkt. Das ist gar deutlicher ausgeprägt als bei “Enterprise” und “Discovery”, die damit nach kurzer Zeit ganz erhebliche Probleme bekamen. Und diese Symptome haben auch “Strange New Worlds” bereits eingeholt.
- Mit Ausnahme einiger witziger Details sind die Geschichten bisher alle ziemlich unoriginell, auch wenn sie teilweise sehr kompetente Remakes bekannter Vorlagen, vorzugsweise aus “The Original Series” und “The Next Generation” sind. Schon “Voyager” und “Enterprise” ging schnell die Luft aus, wenn sie halbgare Remixes und Neuinterpretationen bekannter, bereits besser erzählter Geschichten auffuhren. Besonders dreist ist man bei der sechsten Episode “Lift Us Where Suffering Cannot Reach” vorgegangen, die offenkundig eine Kurzgeschichte von Ursula K. Le Guin adaptiert, ohne dies in den Credits auch nur mit einem Dankeschön zu würdigen. Ähnliches gilt für die “Alien”-Hommage” All Those Who Wander” und die letzte Episode, die eine bekannte “TOS”-Episode mehr als nur zitiert.
“Strange New Worlds” ist schon wieder ein Prequel […] Mit Ausnahme einiger witziger Details sind die Geschichten bisher alle ziemlich unoriginell
Wirklich “fremde neue Welten” besucht die Enterprise in der ersten Staffel nach meiner Zählung genau einen. “Unbekannte Lebensformen” werden von Pike drei entdeckt, davon zwei “neue Zivilisationen”. Als Dinge, “die noch niemand zuvor gesehen hat”, qualifiziert sich nur ein Objekt. In sieben der zehn Episoden ist die Enterprise dort unterwegs wo entweder sie In-Universe oder wir als Publikum schon mal in vorherigen Serien waren. Deswegen traue ich mich keine Prognosen darüber abzugeben, wie lange “Strange New Worlds” tatsächlich langfristig eine allseits beliebte Inkarnation bleiben wird, wie es der beinahe universelle Jubel im Moment suggeriert.
Die Moral von der Geschicht’
Symptomatisch für das Werteportefolio des Writers Rooms ist, dass die erste Episode die oberste Direktive ins Zentrum ihrer Handlung rückt, nur damit Pike sie in Episode 2 und 6 wieder völlig vergessen kann. In-Universe könnte man sagen, er bleibe seiner laissez-faire-Haltung aus “The Sounds of Thunder” treu, aber die ehrliche Wahrheit ist: Die Autoren haben die oberste Direktive nicht als wichtige Randbedingung für’s Geschichtenerzählen auf dem Schirm; oder sonst irgendetwas im Wertekanon von z.B. “The Next Generation”.
“Strange New Worlds” greift nahtlos die Metaphysik von “Discovery” und “Picard” auf, nach der das Universum und seine historische Entwicklung (auch in die Zukunft) wohlgeordnet determiniert sei, sich in vorherbestimmten Bahnen entwickeln und vor Störung der natürlichen Ordnung bewahrt werden müsse (zuletzt wortreich erklärt vom Reisenden Wesley Crusher im Staffelfinale der zweiten “Picard”-Staffel). Wer aus diesem kosmischen Plan ausschert, lädt Tod und Verderben ein, wenn es denn überhaupt möglich ist. Wir erinnern uns, dass der Rote-Engel-Anzug in “Discovery” sich weigerte, Zeitreisekoordinaten zu verarbeiten, die nicht vom Prädestinationsparadoxon vorherbestimmt waren. Dass “Star Trek” derartige Schicksalsergebenheit und Vorsehungsglaube predigt, halte ich für milde gesagt unschicklich. Wie sollen wir jemals eine utopische Zukunft erreichen, wenn wir nicht an das Potential einer jeden Person glauben, ihr Schicksal selbst bestimmen und zum Besseren für sich und die Allgemeinheit wenden zu können?
Dazu kommt, dass “Strange New Worlds” in verschiedenen Folgen Antagonist:innen so aufbaut, dass innerhalb der Episode, bzw. gar der ganzen ersten Staffel jede Möglichkeit zur friedlichen Co-Existenz a priori ausgeschlossen bzw. ad absurdum geführt wird. Das gibt der Enterprise-Crew das Mandat, teils mit tödlicher Gewalt vorzugehen, teils sehr zweifelhafte Lektionen zu erteilen oder zu lernen. Die letzte Episode der Staffel schafft es z.B. noch eine Schippe auf das fragwürdige “Vulcan Hello” drauf zu satteln und “erst Feuern, dann Fragen stellen” endgültig als angemessene Haltung zu propagieren. In einer Episode wird Sicherheitschefin La’an Noonien-Singh explizit und buchstabiert das neue “Star Trek”-Dogma in Sachen Konfliktbewältigung aus:
Wohlgemerkt spricht Noonien-Singh hier nicht aus einer Position, die sich als irre geleitet herausstellt oder gar korrigiert würde. Sie erklärt ihrer Crew und dem Publikum, was in der inneren Logik des Drehbuchs unverrückbarer Fakt ist, und als Letztbegründung für tödliche Gewaltanwendung taugt. Diese Art der Verkürzung und Verengung des Denkens ist eine selbsterfüllende Prophezeihung und der Nährboden für Autokraten, Faschisten und die Akzeptanz von beliebigen Grausamkeiten gegen vermeintliche Feinde im Inneren und Außen.
Wohlgemerkt ist “Strange New Worlds” mit diesem “Wertekanon” aus Schicksalsergebenheit für die Massen, Vorsehung für auserwählte Heldenfiguren und Legitimation von ungezügelter Macht- bzw. Gewaltausübung gegenüber dem so identifizierten “Bösen” zum Aufrechterhalt des Status Quo nichts Ungewöhnliches für die Kulturindustrie Hollywoods. “Star Wars”, “Marvel”, “Matrix”, “Terminator”, “Transformers” und Co. funktionieren letztlich alle so. Das sich aber “Star Trek” nun mindestens vorläufig in diesen Reigen einreiht, halte ich für einen gravierenden Fehler.
Die Kehrseite von Comfort Food
Ich verstehe und habe große Sympathien für alle, die nach fünf teilweise sehr holprigen Jahren einen Freudensprung gemacht haben, als sie diese erste Staffel “Strange New Worlds” gesehen haben. Ehrlicherweise zähle ich mich auch dazu. Der Serie gehört der vermutlich beste und rundeste Live-Action-Start im ganzen Franchise. Und die teilweise zweifelhaften Botschaften schmälern nicht den Spaß an gut inszenierten, toll gespielten und teilweise wirklich mitreißenden, lustigen und berührenden Geschichten.
Gleichzeitig markiert “Strange New Worlds” für mich auch den Moment, indem das Franchise sich von allen Ambitionen verabschiedet, seine eigenen oder die Grenzen des Genres zu verschieben, geschweige denn Risiken einzugehen, um das Publikum oder die Industrie intelligent zu provozieren, herauszufordern und weiterzuentwickeln. Das überlässt man jetzt bewusst anderen. Konzeptionell aufregende, kulturell relevante und erzählerisch ambitionierte Science-Fiction findet anderswo statt – “Star Trek” wird neben den großen Disney-Franchises zum zweitklassigen Markenartikel, der Paramount+ über Wasser halten muss. “Strange New Worlds” ist mit Nostalgie aufgeladene Comfort Food, die jede:m schmecken können soll. So wird “Star Trek” auf lange Sicht nicht mehr auch nur im entferntesten an die Wirkungsgeschichte einer “Original Series” oder “The Next Generation” anknüpfen.
Es scheint fast wie eine kreative Kapitulation vor all jenen, die sich seit Jahren Tag ein, Tag aus darüber beschweren, dass sie mit Kurtzman keine achte oder neunte Staffel “The Next Generation” oder “Voyager” bekommen haben. Oberflächliche Ähnlichkeiten zu den vorgenannten Serien werden dabei in den Vordergrund gerückt, während die Haltung dahinter bestenfalls als inkonsistent zu bezeichnen ist. Es ist eine Abkehr von der notwendigen Einsicht, dass auch “Star Trek” mit seinem Format experimentieren und sich weiterentwickeln muss, um langfristig relevant zu bleiben. Ich hatte bei der Flut neuer “Star Trek”-Serien ehrlich gehofft, dass Stoffe einer Klasse wie “Black Mirror”, “Westworld” oder “Severance” im “Star Trek”-Universum einen Platz finden, und dem Franchise zu alter Größe verhelfen könnten.
Wenn ich mich dafür interessiere, wie Figuren ihr vermeintliches biologisches, technisches oder soziales Schicksal überwinden wie es einst Spock, Data, Hugh und Seven of Nine, dann kann man in “Westworld” bestaunen, wie man das heute zeitgemäß und mit großer Akribie und Disziplin beim Jonglieren mit einer epischen Erzählung über unterschiedliche Zeitebenen inszeniert. Wenn ich mich an einer progressiveren, humanistischen und nur ein wenig besseren Zukunft (und alternativen Geschichte) wie “The Next Generation” aufrichten möchte, in der die manchmal mutig beherzten und manchmal feige getriebenen Entscheidungen von Individuen einen nachvollziehbaren Anteil an dem Vorankommen der Menschheit haben, dann schaue ich mir “For All Mankind” an. Wenn ich eine harmonische und glaubwürdige Symbiose von spannender Fiktion mit harter Science sehen will, bedient mich “The Expanse”. Wenn mir der Sinn nach provokanten und originellen Parabeln auf das Spannungsfeld zwischen technologischem und sozialen Fortschritt steht, setze ich mich vor “Black Mirror”. Auf “Severance” stürze ich mich, weil es ein bestechender Mix aus surrealen Bilderwelten, dichten persönlichen Geschichten und einem mitreißenden Kampf um das Recht zur Selbstbestimmung erzählt. Und mit “Andor” lieferte “Star Wars” gerade den Beleg dafür, dass man nicht seinen ganzen visuellen Kanon aus dem Fenster werfen muss, um ein stimmiges Prequel zu erzählen, dass seiner Welt völlig unverbrauchte Perspektiven abgewinnen kann und mit einem differenzierten Blick auf die strukturelle Gewalt eines totalitäres Unterdrückungssystems das ganze Franchise in neue erzählerische Höhen katapultiert.
Alles Beritte und Disziplinen, in denen “Star Trek” vor 30 Jahren nach praktisch allen Maßstäben Weltklasse und im Einzelfall sogar Avantgarde war.
“Strange New Worlds” markiert den endgültigen Abschied von einem Franchise, das echte Ambitionen hat, das Publikum intelligent zu provozieren
Stattdessen hat man die Flucht in nostalgische Gefilde angetreten. Ob beabsichtigt oder nicht: “Strange New Worlds” ist Appeasement an die “‘The Orville’ ist besseres ‘Star Trek’ als ‘Discovery'”-Fraktion und wird von einer kleinen aber lautstarken Minderheit im Fandom nicht zu Unrecht als Sieg über die ursprünglichen kreativen Visionen und Ambitionen von “Discovery” und “Picard” empfunden. Diese Menschen werden sich ermutigt fühlen, die Kreativen hinter den Serien in Zukunft noch intensiver und frecher auf Social Media anzugehen, als das schon heute der Fall ist.
Man soll mich nicht falsch verstehen: “Discovery” und “Picard” halte ich von einem künstlerischen Standpunkt für nicht wirklich erfolgreiche Experimente, aber es ist meines Erachtens überlebenswichtig für “Star Trek”, weiter mutig nach vorne zu schauen, statt Altes aufzuwärmen. Wenn “Strange New Worlds” tatsächlich erfolgreicher als die beiden vorgenannten Serien zahlendes Publikum auf Paramount+ lotst, ahne ich, dass wir uns in wenigen Jahren schon wieder über “Franchise-Müdigkeit” wie in den frühen 2000ern beim Abschuss von “Enterprise” unterhalten werden.
Mit Rücksicht auf die Leser:innen, die die Episoden noch nicht gesehen haben, bitten wir in den Kommentaren zu diesem Beitrag auf Spoiler zu verzichten. Danke!
Hallo, ja das ist wirklich eine sehr differenzierte und auch konstruktive Kritik. Wobei ich auch der Meinung bin, dass Kritik auch immer in konstruktiver Form erfolgen sollte: Kein bloßes Haten und kein unreflektiertes Loben. Hätte es bisher keine konstruktive Kritik am neueren Star Trek gegeben, gäbe es kein Strange New Worlds und die bloße Möglichkeit auf noch besseres Star Trek wäre im Keim erstickt. Nur an konstruktiver Kritik kann man wachsen. Persönlich finde ich, dass es sehr gut ist, dass Strange New Worlds wieder in die richtige Richtung zu gehen scheint. Die Charaktere sind sympathischer als bei Discovery, die Handlung… Weiterlesen »
Tja, guter Beitrag. Aber innovation kann man sich von den aktuellen Machern nicht erwarten. Bei New-Trek basiert ja alles auf Reboot-Ideen. Ich habe es bei Star Trek 2009 schon fragwürdig gefunden, dass man Kirk und Spock wiederbelebt, nur um mit bekannten Namen punkten zu können. Mutig wäre man aber gewesen, wenn man sich getraut hätte den TOS Look wirklich umzusetzen. Ich denke, dass das Nostalgie-Trash- Element viel besser beim Publikum angekommen wäre, als der pseudomoderne Lenseflair Look. Bei den Kinofilmen hätte man entweder konsequent im Canon bleiben müssen, oder konsequent sagen müssen, es ist ein Reboot oder eine What-If-Geschichte. Die… Weiterlesen »
Eine sehr gute Kritik, die einige wichtige Aspekte über Nu Trek thematisiert. Obwohl ich noch nicht alle Folgen von SNW gesehen habe, empfinde ich die Serie als wesentlich unterhaltender als DIS oder PIC. Ja, es gibt eine Lernkurve der Produzenten, das ist deutlich sichtbar. Und ja, SNW ist ein gutes Beispiel, wie auf die Wünsche der Fan-Base grundsätzlich einzugehen versucht. Das episodenhafte Erzählen ist für mich grundsätzlich eine Wohltat in der heutigen Zeit, wo es so gut wie keine einzige Serie gibt, die nicht mit großen, verwobenen Handlungsbögen aufwarten möchte. Als DS9 Fan bin ich bis heute der Meinung, dass… Weiterlesen »
Ich habe diese abgewogene, systematische und berechtigte Kritik sehr aufmerksam verfolgt. Bravo! Ein wunderbares Fazit zur ersten SNW-Season. Obwohl die Serie deutliche TOS-Reflexe weckt und bei der “Aktivierung” der ST-Nostalgie viel erfolgreicher ist als DSC oder PIC, fehlt über weite Strecken etwas sehr Entscheidendes: Gute, überzeugende Drehbücher. Richtig gelungen fand ich eigentlich nur die Folgen 2-4. Was im Rest der Staffel folgte, war teils eine Beleidigung der Intelligenz des Zuschauers. Teils war es aber auch unverschämter Ideenklau, ohne dass irgendeine eigene Botschaft damit verbunden wurde. Dafür, dass es seit 2017 schon der dritte Anlauf unter den Real-Serien ist, bin ich… Weiterlesen »