Nach der erholsamen Familienidylle auf Nepenthe geht es in der achten Episode wieder zurück in die konspirative Kälte des Alls. “Bruchstücke“ fügt die verschiedenen Handlungsfragmente allmählich zu einem großen Ganzen zusammen. Die Folge punktet erneut mit starken Charaktermomenten, krankt aber auch etwas an der Informationsflut und den Konstruktionstendenzen des Drehbuchs. “Star Trek: Picard“ geht auf die Zielgerade und wir gehen in die Details.
Vorsicht! Wer Angst vor Spoilern hat, sollte besser den nächsten Transwarpkanal ansteuern!
Auf Nepenthe konnte Picard (Patrick Stewart) kurz durchatmen und sein weiteres Vorgehen planen. Nach der Rückkehr auf die La Sirena setzt man nun Kurs Deep Space 12, wo die Crew Unterstützung von der Sternenflotte erhalten soll, um Sojis Heimatwelt gegen die Zhat Vash zu verteidigen. Dank der auf der Privatmission gewonnenen Erkenntnisse ist es Picard nun doch gelungen, Admiral Clancy (Ann Magnuson) von der Notwendigkeit dieser Mission zu überzeugen.
Derweil hat Chris Rios (Santiago Cabrera) erneut mit seiner Vergangenheit zu kämpfen. Sojis (Isa Briones) Ankunft hat ihn total aus der Bahn geworfen. Die junge Frau erinnert ihn an ein furchtbares Ereignis vor neun Jahren, das sein Leben für immer verändert hat. Agnes (Alison Pill) ist inzwischen aus dem Koma erwacht und offenbart sich Picard.
Zur gleichen Zeit schreitet die auf dem Borg-Kubus angekommene Seven of Nine (Jeri Ryan) zur Tat, um Elnor (Evan Evagora) und die verbliebenen XBs vor den Grausamkeiten der Romulaner zu retten. Hierfür greift sie zu extremen Maßnahmen.
Am Anfang der Episode erfahren wir zudem, dass die Zhat Vash von Oh (Tamlyn Tomita) angeführt werden, dass deren Agenda auf einer uralten Zerstörungsmythologie basiert und dass sie außerdem für die Attacke der Synths auf den Mars verantwortlich gewesen sind.
Rätsel der achtfachen Sterne
“Wir kennen noch immer nicht den Namen jener mächtigen Rasse, die dieses Objekt hinterlassen hat. Diese Mahnung, die uns vor dem Schrecken der Auslöschung warnt, die aus dem Himmel kam. Als unsere Vormütter zum ersten Mal diese Warnung durchlebten, wurden wir, die Zhat Vash, geboren. Seit Hunderten von Jahren wirken wir im Schatten darauf hin, eine zweite Ankunft der Zerstörer zu verhindern.”
– Commodore Oh, 2385
Die Anfangssequenz von “Bruchstücke“ hat schon was. Mir hat das mystische Space-Stonehenge inklusive romulanischer Druidenkult-Atmosphäre jedenfalls echt gut gefallen. Die Szene, in der die Zhat Vash ob des gesehenen Schreckens einem selbstdestruktiven Wahn verfallen, schießt meiner Ansicht nach aber etwas über das Ziel hinaus.
Die geheimnisvolle Erzählung von zerstörerischen K.I.s ist natürlich alles andere als neu, weder das Science-Fiction-Genre betreffend noch in Bezug auf das “Star Trek”-Franchise selbst. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass sich das Rätsel der achtfachen Sterne als Origin-Geschichte für die Borg entpuppen wird. Macht auch Sinn, denn so könnte man alle Handlungsstränge in einem großen Finale relativ geschmeidig zusammenbekommen. Außerdem stimmt die Zeitangabe von mehreren Tausend Jahren ungefähr mit Guinans Aussagen in “Zeitsprung mit Q” (TNG 2×16) überein. Die “namenlose Rasse” dürften dann wohl die Ur-Borg sein.
Jedenfalls beleuchtet diese Szene endlich das bisher doch eher dunkel gebliebene Dogma der Zhat Vash. Die Flut an Informationen ist an dieser Stelle allerdings grenzwertig. Vielleicht hätte man einige der hier vorgebrachten Infos auch schon etwas früher einstreuen können, dann wären eventuell auch die beiden Antagonistinnen Oh und Narissa weniger stereotyp ausgefallen. Letztere gewinnt in “Bruchstücke“ tatsächlich etwas an Profil, zeigt sie doch endlich mal eine verletzliche, emotionale und sogar empathische Seite. Das freut mich in erster Linie für Peyton List, die man angesichts ihrer unfassbar stereotyp geschriebenen Rolle schon bemitleiden musste. Ob der Charakter in den restlichen zwei Folgen doch noch die Kurve kriegen kann, da sind allerdings Zweifel angebracht. Das plötzlich entdeckte Interesse der Autoren an Narissa kommt für diese Figur wohl leider zu spät.
Im weiteren Verlauf der Episode wird auch klar, dass Commodore Oh eine halbvulkanische Romulanerin ist und vor Jahrzehnten in die Sternenflotte eingeschleust wurde, um die Fortschritte der Föderation auf dem Gebiet der Kybernetik zu untergraben. Wahrsagerin Ramdha (Rebecca Wisocky) stellt sich zudem als Narissas und Nareks Tante heraus, die beide nach dem Tod ihrer Eltern aufzog. Ramdha hat sich wohl mit Absicht assimilieren lassen, um auch die Borg auf diese Weise zu eliminieren. Bleibt sie im Koma oder bekommt sie noch einen letzten großen Auftritt? Entsprechende Wetten können ab jetzt platziert werden.
Zeit für Geständnisse
Apropos Wetten: Wer darauf gewettet hätte, dass auch Riosˈ Trauma mit den Zhat Vash in Verbindung steht, der könnte sich von dem gewonnenen Latinum jetzt wohl einen eigenen Mond leisten. Oder auch nicht, wenn man sich die Vorliebe des neuen “Star Trek” für “Zufälle” mal etwas genauer vor Augen führt. Auch Michael Chabon macht da leider keine Ausnahme. Für mich kam dieser Twist dennoch überraschend.
Captain Alonzo Vandermeer, Kommandierender Offizier der USS ibn Majid, war für Riosˈ nicht einfach nur sein großes Vorbild, sondern auch so etwas wie eine Vaterfigur. Umso größer der Schock, als Vandemeer eines Tages zum Phaser griff und damit erst zwei diplomatische Gäste wegpustete und anschließend auch sich selbst. Vandemeers Opfer waren Androiden, geschaffen von Maddox und demnach Geschwister von Soji. Oh hatte wohl Riosˈ Captain für ihre Zwecke instrumentalisiert. Für Vandemeer bedeutete dies den Tod, für Rios sowohl das Ende seiner Sternenflotten-Karriere als auch eine charakterprägende Lebenskrise.
“Ich hab‘ immer so getan, als wäre er mein Vater. (…) War schon ein Ding, als sich herausgestellt hat, dass er ein kaltblütiger Mörder war. (…)”
– Rios über Cpt. Vandermeer
“Danach habe ich alles vertuscht. (…) Sechs Monate später wurde ich rausgeschmissen. (…) ˈPosttraumatische Dysphorieˈ. Dabei war ich nur…”
“…gebrochen!”
– Rios und Raffi
Dass man die Verschwörung um die Zhat Vash mit Riosˈ Trauma verlinkt, hätte ich nicht unbedingt gebraucht. Da geht es mir ähnlich wie mit Thads Krankheit letzte Woche in “Nepenthe”: Zu viele Zufälle verderben den Plot, ziehen ihn fast schon ins Lächerliche. Die ganze Welt ist eine riesengroße Verschwörung? Nein, es tut mir leid, aber das ist mir viel zu dick aufgetragen!
Das ändert aber nichts daran, dass die Szenen mit Santiago Cabrera zweifellos zu den Höhepunkten der Episode gehören. Der Mann kann schauspielern und ist ein absoluter Gewinn für diesen Cast! Die Szenen mit den verschiedenen Rios-Hologrammen machen wirklich Spaß. Und auch Raffi entwickelt sich seit nunmehr zwei Episoden definitiv in die richtige Richtung. Ich finde mittlerweile einen Zugang zu dieser Figur, die sich nun viel besser in die Gruppe integriert. Dennoch muss ich sagen, dass mir hier die deutsche Synchro-Version ausnahmsweise mal besser gefällt als das englischsprachige Original. Heide Domanowski bringt Raffi stimmlich irgendwie natürlicher und herzlicher rüber als Michelle Hurd.
“Sie sind ein Wunder, ein technologisches Meisterstück und ein Kunstwerk.“
“Bin ich eine Person? (…) Nicht theoretisch. (…) Sehen Sie in mir eine Person, so wie Sie eine sind?“
– Agnes und Soji
Wirklich gelungen ist der Dialog-Schnitt zwischen Raffi und Rios auf der einen und Agnes und Soji auf der anderen Seite. Diese Art der Inszenierung verleiht den Dialogen eine tolle Dynamik und die Schauspieler(innen) tragen ihren Teil dazu bei, dass diese Szenen wirklich unter die Haut gehen. Hier muss man Regisseurin Maja Vrvilo erneut ein dickes Kompliment aussprechen, die hier wie zuvor schon in “Nepenthe” ihr hervorragendes Gespür für die Inszenierung von Dialogen und Charaktermomenten unter Beweis stellt. Der Score von Jeff Russo komplettiert diese gelungene Inszenierung in gewohnt hochwertiger Weise.
“Erzählen Sie mir von Data. Wie war er?”
“Data war mutig, neugierig, sanftmütig. Er hatte die Weisheit eines Kindes. Ungetrübt von Gewohnheiten oder Vorurteilen. (…).
“Auf welche Weise sollte er sich an Sie erinnern?”
(…) Dann hoffe ich, dass er sich an Jean-Luc Picard als jemanden erinnern würde, der immer an ihn geglaubt hat. Der an sein Potential geglaubt hat. Der sich an seinen Erfolgen erfreut hat. Ihn beraten hat, wenn er gescheitert ist. Für ihn da war, wenn er Hilfe gebraucht und wenn er sie nicht gebraucht hat. Ihm nicht im Wege stand.”
– Soji und Picard im Gespräch über Data
Auch Picards Mittagstisch-Gespräch mit Soji hat mich wirklich berührt, weil hier noch einmal die besondere Beziehung zwischen Picard und Data aus “The Next Generation” zur Sprache kommt. In gewisser Weise war Data der Sohn, den Picard nie hatte. Und obwohl Picard niemals eine Vaterrolle anstrebte, weil er sich dafür nicht geeignet fühlte, war er Data doch stets ein adäquates väterliches Vorbild gewesen – und eine Stütze in Zeiten des Misserfolgs. Da geht einem Alt-Trekkie wahrlich das Herz auf! Sicherlich könnte man bemängeln, dass Picard schon zum wiederholten Male gesteht, emotionale und soziale Defizite zu haben. Der Schönheit dieser Szene tut dies jedoch keinen Abbruch.
Eine echte Crew
Dass Autor Michael Chabon zweifellos über eine künstlerische Ader verfügt, belegt sein geschickter Einsatz von Leitmotiven und Stilmitteln, die dessen Geschichten nicht nur strukturieren, sondern auch zieren. Gerne greift er auf Parallelismen zurück, in “Bruchstücke” ist es die Vater-Sohn-Beziehung, die sich bei Picard und Rios in chiastischer Form manifestiert: “Vater” (Picard) und “Sohn” (Data) beziehungsweise “Sohn” (Rios) und “Vater” (Vandemeer).
Ein weiteres Motiv der Episode ist das der “Schicksalsgemeinschaft”. Alle Hauptcharaktere haben ihre eigene, ganz individuelle, emotionale Last zu tragen. Soji ringt um ihre Identität, Rios und Agnes kämpfen mit ihren Schuldgefühlen. Raffi muss jeden Tag aufs Neue gegen ihre Sucht ankämpfen. Und Picard? Der hat ein ganzes Leben aufzuarbeiten, allen voran jedoch die vergangenen 14 Jahre. Doch diese Mission hat sie alle zu einer Schicksalsgemeinschaft werden lassen, in welcher sie sich gegenseitig unterstützen und aufbauen. Alle Szenen auf der La Sirena zusammengenommen zeigen sehr fühlbar, dass diese Crew allmählich zusammenwächst. Die Zusammenkunft in der Messe erinnert sicherlich nicht von ungefähr an die Briefings der Führungsoffiziere in den früheren Serien. Kameradschaft und Teamwork waren schon immer zentrale Botschaften in “Star Trek”. Der Teamgeist ist nun auch auf der La Sirena aus der Flasche.
Versuchung der Macht
Ein neues Kollektiv (oder: Schicksalsgemeinschaft) entsteht auch auf dem Artefakt, als sich Seven zur neuen Borg-Königin aufschwingt, das Zepter allerdings schon nach wenigen Minuten wieder niederlegt.
Leider fällt die Handlung auf dem Borg-Kubus wiederholt sehr dünn aus. Zwar dürfen wir uns über die Rückkehr von Seven of Nine (Jeri Ryan) freuen, diese vollzieht sich aber lediglich in einem Action-Geschehen, das mal wieder wie ein Zugeständnis an die Sehgewohnheiten des Mainstream-Publikums wirkt. Diesem Handlungsstrang fehlt es einmal mehr an Innovation, Genialität und in gewisser Weise auch an Relevanz. Die XBs verkommen ohne Hugh zu stummen Halbzombies, die man als Zuschauer weder furchterregend findet, noch kann man mit diesen sympathisieren. Sie sind einem schlicht egal.
“Ich soll sie assimilieren? In ihre Gedanken eindringen, ihre Identität unterdrücken, sie versklaven? Erneut? (…) Das Kollektiv wird sie nicht freilassen wollen … und … ich will sie dann vielleicht auch nicht freilassen.”
– Seven of Nine
Dabei wäre hier so viel mehr möglich gewesen. Denn Sevens Konflikt, ob der Zweck (Rettung der Borg) auch die Mittel (Re-Assimilierung) rechtfertigt, ist typisch “Star Trek”. Nur leider wird auch dieses Dilemma mal wieder im Schnellverfahren abgehandelt und bleibt somit am Ende auch ohne nennenswerte Konsequenzen – weder für Seven noch für die XBs.
Leider wandelt “Picard” diesbezüglich auf den Pfaden von “Voyager”, weil man auch hier die Gefahr, die von den Borg ausgeht, irgendwie relativiert, indem man den Aspekt des temporären Bewusstseinszusammenschlusses überbetont. Das Hive wird nicht mehr so mächtig, so kraftvoll und so besitzergreifend charakterisiert, wie dies noch in “TNG” der Fall gewesen ist. Zudem waren Abtrennungen vom Hive-Bewusstsein in den alten Serien stets mit massiven physischen und psychischen Folgen für die einzelnen Drohnen verbunden gewesen. Hier wirkt es aber so, als könne man ein Hive so unkompliziert aktivieren und deaktivieren wie eine Internetverbindung am PC. Der große Leviathan arbeitet scheinbar nur noch in Teilzeit. Einmal mehr nimmt man den Borg auf diese Weise einen Teil ihres ursprünglichen Schreckens.
Auch der Aspekt der Machtgier, der Sevens Konflikt innewohnt, wird hier leider nur unzureichend nutzbar gemacht. Seven hat immerhin die Möglichkeit, Tausende Borg zu kontrollieren und für ihre eigene Agenda zu mobilisieren. Dass sie der Versuchung der Macht so schnell entsagt, ist in meinen Augen verschenktes erzählerisches Potential. Vielleicht hätte man Seven noch etwas länger zögern lassen und die Auflösung dieser Situation in Form eines Cliffhangers verbauen sollen. So, wie man es am Ende auflöst, wirkt es unnötig undramatisch.
Ebenfalls bedauerlich ist, dass Elnor genauso blass bleibt wie in den Folgen zuvor. Während die Crew der La Sirena immer enger zusammenwächst, kann Evan Evagoras Charakter an diesem Teambuilding-Prozess nicht partizipieren, da er zur gleichen Zeit auf dem Kubus weilt. Mir erschließt sich der Sinn dieses Subplots immer noch nicht. Es hätte dieser Figur deutlich besser getan, wenn Elnor stattdessen auf der La Sirena verblieben wäre.
Der große Zerstörer
Ein zentrales Thema der Serie ist “Angst” und die Frage, wie wir damit umgehen. Picard sieht in der Angst “den großen Zerstörer“ und warnt davor, der Furcht nachzugeben. Das war bekanntlich schon sein Hauptkritikpunkt an der Sternenflotte in “Gedenken” und diesen Vorwurf erneuert er nun im Gespräch mit Rios. In “Die geheimnisvolle Box“ war Picard noch selbst in die – wie er sagt – Falle der Angst getappt. Seine Furcht vor dem Borg verleitete ihn dazu, diese pauschal als Monster zu betrachten und ihnen ihre Würde als Individuen abzusprechen. Dank Hugh konnte er diese Angst und die damit verbundene Engstirnigkeit im Schnellverfahren überwinden.
Gleiches gilt nun auch für Agnes, die in “Bruchstücke” binnen Minuten eine 180-Grad-Wendung vollzieht. Ein einziges Vieraugengespräch mit Soji reicht aus, um sie von ihrer Höllenangst vor den Synths zu befreien. Jurati macht an dieser Stelle nicht unbedingt das, was der menschlichen Logik entspräche; sondern das, was das Drehbuch von ihr verlangt: Sie belegt Picards Argumentation, die da lautet, dass eine Kombination aus Aufgeschlossenheit, Optimismus und einer unbändigen Neugier das richtige Mindset ist, um die Angst zu überwinden. Das ist zweifellos clever geschrieben und eine typische “Star Trek”-Botschaft. Aber ist das an dieser Stelle auch glaubwürdig und nachvollziehbar?
“Wir alle haben uns in Wahrheit selbst betrogen. (…) Das [Synths-]Verbot höchstselbst war der Betrug. Sicher, die Zhat Vash haben uns eine Falle gestellt, aber wir hätten nicht hineintappen müssen. Stattdessen haben wir der Angst nachgegeben. (…) Und Furcht ist der große Zerstörer (…).”
– Picard zu Rios
Nur bedingt, würde ich meinen. Einerseits greift Picards Argumentation hier sehr schön seinen Disput mit Worf in “Das Standgericht” (TNG 4×21) auf, in dem der Captain davor warnt, dass der Weg vom legitimen Verdacht zum blinden Verfolgungswahn weitaus kürzer ist, als wir denken. So ist es und die Zhat Vash sind das beste Beispiel für diese These, wollen sie doch ausnahmslos alle Synths eliminieren. Sie haben jedes Maß verloren, konstruktiv mit ihrer Angst umzugehen. Sie machen sich nicht einmal die Mühe zu differenzieren zwischen guten und bösen Synths.
Gleichwohl muss im Gegenzug die Frage erlaubt sein, ob der Weg von Picards absoluter Offenheit zur gefährlichen Naivität nicht ähnlich kurz sein könnte. Rios und Raffi machen Picard jedenfalls auf dieses Problem aufmerksam – und dies sicherlich nicht zu Unrecht. Denn Picards Blick auf die Synths speist sich scheinbar einzig aus den positiven Erfahrungen, die er mit Data gemacht hat. Aber zur Wahrheit des künstlichen Lebens gehören eben auch Control, Ruk bzw. Exo III, Nomad, V’Ger, Lore, B-4, Automatische Einheit 3947, der Killer-Isomorph und ganz besonders die Borg. Selbst einen Out-of-Control-Data haben wir “The Next Generation“ schon des Öfteren zu sehen bekommen – einer, der kurz davor war, seinen Freund Geordi zu töten (TNG 7×01 “Angriff der Borg, Teil 2”). Völlig unbegründet ist die Angst der Zhat Vash vor künstlicher Intelligenz also nicht. Abgesehen davon erfüllen Angstgefühle unter gewissen Umständen auch wichtige biologische Funktionen, etwa das Schärfen der Sinne oder die Aktivierung von “Überlebensmechanismen”. Daher sollte man Furcht auch nicht so pauschal, selbstgerecht und unreflektiert verurteilen, wie Picard es hier tut. Seine Kritik an den Methoden der Zhat Vash ist wiederum absolut gerechtfertigt.
Ich hätte Picard an Chabons Stelle daher einen anderen Satz in den Mund gelegt: Nicht die Furcht per se ist der große Zerstörer, sondern vielmehr das, was daraus erwachsen kann: blinde Hysterie oder besser gesagt der Verlust von Rationalität, Mäßigung und Humanität. Das wäre meiner Meinung nach eine viel differenziertere und ehrlichere Aussage gewesen.
Das unentdeckte Land
Achtung, Spoiler zu Episode 9!
In Folge 1×09 “Et in Arcadia Ego, Teil 1” erreicht die La Sirena Sojis Heimatwelt und wird in einen Kampf verwickelt. Den Preview-Trailer gibt’s hier.
Die lateinische Phrase “Et in Arcadia ego” (“Auch ich bin in Arkadien”) ist eine Ellipse mit umstrittener Bedeutung. “Die arkadischen Hirten” z.B. ist der Titel zweier Gemälde von Nicolas Poussin aus dem 17. Jahrhundert. Sie zeigen idealisierte Hirten. Auch Giovanni Francesco Barbieri (1616-1620) hat ein Bild mit dem Titel “Et in Arcadia ego” gemalt, das u.a. einen Totenkopf zeigt. Arkadien gilt in der Prosa als Schlagwort für idyllische Landschaften, in der Hirten als Protagonisten fungieren.
Folgende Fragen bleiben für das Finale weiterhin offen:
- Warum besteht die Zhat Vash-Führung nur aus Frauen?
- Warum ist auch Data in der Schreckensvision zu sehen?
- Sind die Infos aus dem Mahnmal echt oder nur ein Fake?
- Was ist mit den “rogue synths” nach 2385 passiert?
- Was hat Maddox nach 2385 genau gemacht? Wie viele Androiden hat er erschaffen?
- Was verbirgt sich hinter dem männlichen Androiden “Schöne Blume”? Ist er ein neuer Data?
- Was hat Ramdha genau mit den Borg gemacht?
- Sind Maddox’ Androiden tatsächlich die “Zerstörer”?
- Sind die Borg in Wahrheit die “Seb-Cheneb”?
- Wird die Sternenflotte doch noch helfend eingreifen?
- Wer hat die romulanische Supernova erschaffen und warum?
- Was ist mit Nareks und Narissas Eltern (und Bruder) passiert?
Fazit
“Bruchstücke” gibt sich alle Mühe, die verschiedenen Mosaiksteine der Handlung kohärent zusammenzufügen und auf diese Weise die Grundlage für ein spannendes Staffelfinale zu legen. Die Informationsflut ist hart an der Grenze des Erträglichen, aber für eine Episode mit einer 56-minütigen Laufzeit gerade noch so im Rahmen. Sicherlich hätte man viele Infos, insbesondere die über Narissa, Ramdha und die Zhat Vash, schon viel früher einfließen lassen können. Bei Rios’ Geschichte musste man allerdings warten, bis er Soji zu Gesicht bekommt. Dass man auch Rios’ Schicksal mit den Zhat Vash verknüpft, wirkt konstruiert. Hier läuft “Picard” Gefahr, unglaubwürdig zu werden.
In Bezug auf den Borg-Kubus verschenkt man erneut großes erzählerisches Potential. Elnor wird als Figur vom Rest des Ensembles isoliert, was der ohnehin schon klischeehaften Figur weitere Entwicklungsmöglichkeiten nimmt. Auch Seven of Nine verkommt so langsam zur Action-Queen. Jeri Ryans Charakter, immerhin vier Staffeln lang eine Hauptfigur in “Voyager”, auf den rettenden “Deus ex Machina” zu reduzieren, wäre in meinen Augen ein Frevel. Da sollte im Staffelfinale noch mehr kommen.
Nichtsdestotrotz kann erfreulicherweise festgestellt werden, dass die Crew allmählich zusammenwächst, was sich überdies auch im Schauspiel des Ensembles äußert. Schauspielerisch stechen vor allem Santiago Cabrera, Alison Pill und Nachwuchstalent Isa Briones hervor, die in ihren Szenen mit der Schauspiel-Ikone Patrick Stewart sowie der bereits deutlich erfahreneren Alison Pill eine verdammt gute Figur macht.
Während die Inszenierung der Episode perfekt erscheint, muss sich Autor Michael Chabon den Vorwurf gefallen lassen, zu viele Zufälle zu konstruieren, um das Ausmaß der Zhat Vash-Verschwörung künstlich aufzublähen. Auch wenn mir seine stilistischen Mittel gefallen, habe ich auf der anderen Seite ein Problem mit seiner Picard-Charakterisierung: Für meinen Geschmack fehlt diesem Picard die Bereitschaft, eigene Sichtweisen gründlich zu reflektieren und auf das vorschnelle Verurteilen anderer Denk- und Sichtweisen zu verzichten. Womöglich ist dieser Mangel an Demut und Selbstreflexion aber auch so intendiert. Auch Juratis plötzlicher Sinneswandel ist unglaubwürdig und dient lediglich dazu, Picards Simplifizierung zu rechtfertigen. An den Charakterschrauben müsste man folglich noch etwas drehen.
Wie in den meisten anderen Episoden der ersten Staffel ist auch in “Bruchstücke” kaum etwas von dem optimistisch konnotierten Eskapismus vergangener “Star Trek”-Erzählungen übrig geblieben. Die Hauptcharaktere sind durch seelische Narben gezeichnet, einen unbelasteten Charakter, der einfach nur den Weltraum erforschen will, sucht man leider vergebens. Es macht aber keinen Sinn, das jede Woche erneut aufs Tableau zu bringen. Daher sollte man sich an den kleinen Lichtblicken erfreuen: das Zusammenwachsen der Crew und die Freundschaften, die geraden im Entstehen sind oder sich vertiefen. Diesbezüglich hat “Picard” seinen Kompass endlich gefunden.
Unter dem Strich sehe ich im Vergleich mit “Discovery” einen (kleinen) Fortschritt hinsichtlich des Storytellings. In “Disco”-Season 2 war zu diesem Zeitpunkt schon ein Großteil der Luft raus. In “Picard” bleibt das Mysterium der Synths hingegen bis zum Schluss offen. Da hat man einiges richtig gemacht.
Als Gesamtwerk hat mir “Bruchstücke” sogar fast noch besser gefallen als “Nepenthe”. Die Charakterszenen sind ähnlich stark, aber die Handlung bekommt endlich mehr Tempo, Dynamik und Struktur. Auch der Humor stimmt. Gleichwohl ist auch diese Episode weit davon entfernt, perfekt zu sein. Aber für heutige Maßstäbe ist “Bruchstücke” sicher eine der besseren “Star Trek”-Episoden.
Bewertung
Handlung der Einzelepisode | [usr 5 max=”6″] |
Stringenz des staffelübergreifenden Plots | [usr 5 max=”6″] |
Stringenz des bekannten Kanons | [usr 5 max=”6″] |
Charakterentwicklung | [usr 5 max=”6″] |
Spannung | [usr 4 max=”6″] |
Action & Effekte | [usr 4 max=”6″] |
Humor | [usr 4 max=”6″] |
Dialoge | [usr 5 max=”6″] |
Intellektueller Anspruch | [usr 3 max=”6″] |
Gesamt | [usr 5 max=”6″] |
Episoden-Infos
Episoden-Nummer | 8 (Staffel 1, Episode 8) |
Originaltitel | Broken Pieces |
Deutscher Titel | Bruchstücke |
Erstausstrahlung USA | Donnerstag, 12. März 2020 |
Erstausstrahlung Deutschland | Freitag, 13. März 2020 |
Drehbuch | Michael Chabon |
Regie | Maja Vrvilo |
Laufzeit | 56 Minuten |
Mit der Rezension weitgehend, mit der Bewertung voll einverstanden, danke dafür. Ohne alles von alten Kommentaren zu wiederholen: Die Erzählgeschwindigkeit finde ich passend, für mich war das unheimlich spannend. Aber das ist ja immer subjektiv. Richtig, viele erzählerischen „Zufälle“ oder „Wendungen“ die plötzlich oder ohne Hintergrund geschehen. Ich finde es toll, wie die Crew der La Sirena zusammengewachsen ist. Schön, dass nicht mehr English zitiert wird, aber „optimistisch konnotierten Eskapismus“ harter Toback, musste ich googeln, trotz Studium. Heißt so etwas wie optimistisch überzogene Wirklichkeitsflucht? Egal, ich versuche mich mal „einfach“ auszudrücken. Ich sehe in Picard die positiven Botschaften von Star… Weiterlesen »
hallo, eine sehr gute Rezension! Ja es bringt nicht mehr viel zum Denken dazu, TNG mit Picard zu vergleichen. Vielleicht wäre es besser zu überlegen warum Serien heute so sind wie sie sind. Ist Picard eine Zukunftsvision an der man teil haben möchte? Hat sie potential zu einer Fan-Gemeinde wie bei TNG? Was ist anders an der Zukunft Heute und warum? Was ich mich auch zum Formalen frage, ist: Warum es in der Staffel nur 10 folgen(?) gibt. (TNG hatte glaube ich in der Staffel über 20 Folgen) Was ja dann auch zur Komplexität und spannenden Nebenhandlungen geführt. Ist das… Weiterlesen »
Finde das auch eine gute Frage. Woran kranken Serien? Bei Picard liegt es unter anderem sicher daran, dass Vorgaben gesetzt wurden. Dieses muss rein, das wollen wir sehen, das muss geschehen. Und dann denkt man sich eine Geschichte drum rum aus. Das kann nur in Absurditäten abdriften. Die Story ist wenig stringent. Dann wird zu viel erzählt und zu wenig gezeigt. Eine Zukunftsvision sehe ich da nicht. Stattdessen versucht man, die lahme Geschichten durch Gewalt aufzupeppen. Ich finde die Einzel-Episoden-Erzählweise überhaupt nicht veraltet, aber heutzutage glaubt man, man müsse, um cool und modern zu sein, eine staffelübergreifende Geschichte erzählen. Black… Weiterlesen »
Ich habe mir bisher alle Episoden angeguckt. Meine Begeisterung dafür hält sich stark in Grenzen. Aber sind wir doch mal ehrlich: Star Trek hatte seinen Höhepunkt in der ersten Hälfte der 90er-Jahre, als TNG in aller Munde war un die letzten TOS-Filme über den Bildschirm flimmerten. Danach ging es, von kleinen Ausreißern abgesehen, kontinuierlich bergab (abzulesen an den Quoten). Für Star Trek interessiert sich die heutige junge Generation – trotz einiger neuer Formate – nicht einmal annähernd so sehr wie ich damals, als ich Kind und Jugendlicher war. Warum ist das so? Hat man das Pferd tot geritten? Hat man… Weiterlesen »
Noch eine Frage, die offenbleibt: Wann werden die Autoren gefeuert?